"Sie verkaufen Ihre Uhren wohl nicht besonders gern", erlaubte sich sein Gehilfe eine vorlaute Bemerkung.
"Pass du lieber auf, deinen Hemdkragen in Ordnung zu bringen!", tadelte ihn Herr Zacharias sogleich und wirkte dabei plötzlich seltsam menschlich. Er hatte seinen Angestellten soeben tatsächlich geduzt. Ein kleiner Fauxpas und ein Zeichen, dass er schnell die Beherrschung verlieren konnte, wenn es um seine geliebten Uhren ging.
"Aber Sie haben Recht, Herr...äh...", stimmte er ihm zu. "Ich verkaufe keine Uhren. Niemals."
"Aber warum stellen Sie sie dann überhaupt hier im Laden aus?"
Herr Zacharias bekam ganz leuchtende Augen. "Weil ich sie um mich haben muss, immerzu. Ich kann keine einzige jemals aus den Augen lassen. Die Zeit ist es, die mich fasziniert, verstehen Sie? Diese Stücke könnten alle ein Lied von der Zeit singen. Sie haben Dutzende von Generationen überdauert, sind Sekunde um Sekunde an ihren ursprünglichen Besitzern vorbeigezogen. Menschen kommen und gehen, aber diese Gegenstände hier haben alle etwas Dauerhaftes, Beständiges. Sie sind meine ganz persönliche Art, die Zeit einzufrieren."
"Aha", sagte sein Gehilfe.
"Wo war ich stehengeblieben?", dachte Herr Zacharias laut nach. "Ach, ja! Die Zeit. Die Zeit ist die Straße der Welt, die einzige Konstante im Universum. Sie ist durch nichts aufzuhalten, eine nicht zu bändigende Macht. Zeit kann nicht repariert werden. Wenn es zu spät ist, bleibt es zu spät. Es ist niemals wieder gutzumachen, ganz egal, was man auch unternimmt. Keine Sekunde hat sich jemals wiederholt, kein Wimpernschlag ist je zurückgekehrt. Die Zeit ist wie eine niemals endende Sinfonie. Sie unterliegt einer strikten Ordnung und kennt keinerlei Nachlässigkeiten. Präzision ist ihr oberstes Gebot."
Es mag ein Zufall gewesen sein, dass ausgerechnet in diesem Augenblick das allstündliche Uhrenkonzert seine Runde machte. Obwohl ein Zufall in der geordneten Welt dieses merkwürdigen Eigenbrötlers eigentlich gar nicht existieren konnte.
"Da hören Sie es", frohlockte er stolz. "Keine dieser Uhren hat auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu früh mit dem Läuten begonnen. Das ist wie Musik in meinen Ohren."
"Aha. Aber wieso warten Sie dann trotzdem immer, bis die Uhren zum Stillstand gekommen sind? Sie können sie doch schon vorher wieder aufziehen."
"Nein, nein, nein! Das geht auf keinen Fall", belehrte ihn Herr Zacharias. "Das wäre unpräzise, ja geradezu töricht. Denn dann wäre es unmöglich, den genauen Zeitpunkt des nächsten Stillstandes vorherzusagen. Es würde also ein Fehler entstehen, der sich nur immer weiter ausbreiten würde. Und stellen Sie sich mal vor, was dann geschähe: Jede Uhr könnte dann einfach im nächsten Augenblick stehenbleiben, aber auch mitten in der Nacht. Man würde es vielleicht tagelang nicht bemerken. Wenn ich aber weiß, wann sie ihr Ende erreicht, kann ich sofort eingreifen und ihr neues Leben einhauchen. Und außerdem ist es ein Moment der absoluten Macht, der einem die Fähigkeit verleiht, der Zeit auf eine gewisse Art und Weise ein Schnippchen zu schlagen, wenn auch nur symbolisch. Ein kleines symbolisches Schnippchen eben, wenn Sie verstehen, Herr...äh..."
Valentin schüttelte den Kopf.
"Ich brauche dann nur am Zeiger zu drehen, schon ist die verlorene Zeit wieder aufgeholt. Verstehen Sie? So kann man sie überlisten, wie gesagt, im übertragenen Sinne zumindest. In diesem Augenblick habe ich sozusagen die Macht über sie. Macht über etwas, das nicht zu bändigen ist. Das ist bei der Zeit so ähnlich wie mit dem Tod. Jeder weiß, dass er unerbittlich ist und in keinster Weise mit sich handeln lässt. Man kann ihm einfach nicht entkommen. Aber wie wäre es, wenn man ihn, statt ängstlich auf seine Ankunft zu warten, bestellt wie einen billigen Laufburschen und ihm befiehlt, seine Sense gefälligst dann zu schwingen, wenn es einem selbst am besten...oh, Verzeihung."
Der Junge verzog das Gesicht, während sich der Alte kurz räusperte. Er konnte wohl, wenn man ein Gespräch über die Zeit mit ihm führte, selbige ganz schnell vergessen. Valentin nahm sich vor, das Thema in Zukunft zu vermeiden. Der Mann war zweifellos verrückt.
"Oh", fasste sich Herr Zacharias wieder. "Ich hoffe, ich habe Sie mit meinen Gedanken über den Tod nicht zu sehr verängstigt, Herr...äh..."
"Nein, nein", ächzte Valentin.
Wieder zerrte er am lästigen Kragen seines dunkelgrünen Anzugs, der zum Thema Zeit sicher auch einiges beizutragen gehabt hätte: Von Urgroßmutter einst noch liebevoll aufgebügelt, anschließend siebzig Jahre aufbewahrt - post mortem sozusagen - und konserviert durch nichts als Dunkelheit und Mottenkugeln. Das Ding kratzte an allen nur erdenklichen Stellen! Aber der Antiquitätenhändler bestand darauf, dass sein Angestellter dem übrigen Interieur entsprechend gekleidet war. Die lächerliche Ruderclub-Krawatte mit den cremefarbenen Rauten machte es nur noch schlimmer. Kein Wunder, dass die Leiter Mordgelüste gegen ihn hegte!
"Haltung bewahren, das ist es, worauf es im Leben ankommt", begann Herr Zacharias von Neuem. "Haltung, in jeder Sekunde, unaufhörlich, so wie die Zeit. Das ist der Schlüssel zu allem Erstrebenswerten. Und äußerste Vorsicht bitte. Diese Werke dort oben sind noch handschriftlich verfasst."
"Sehr wohl", ächzte Valentin.
So machte er sich wieder an seine Arbeit - Bücher abstauben und nach Papierkäferlarven Ausschau halten (wobei er nicht die geringste Ahnung hatte, woran man die überhaupt erkennen konnte). Diese Tätigkeit war sterbenslangweilig. Doch zumindest glaubte Valentin, dass die unsichtbare Mauer, die zwischen ihm und dem Antiquitätenhändler stand, gerade ein wenig an Höhe verloren hatte. Der Alte war ziemlich verschroben, aber das war wohl völlig normal, wenn man sein ganzes Leben in einer derart traurigen Umgebung fristen musste.
Das Abstauben der Bücherregale war jedoch nicht Valentins einzige Aufgabe. Er hatte natürlich auch jene Tätigkeiten zu erledigen, die die Würde des vornehmen Herrn Zacharias untergraben hätten. Da gab es den Eingang, der stets gefegt werden musste und den Fußabstreifer, den er täglich auszuklopfen hatte. Und da war noch etwas, eine kleine Unannehmlichkeit , wie es der Antiquitätenhändler zu umschreiben pflegte. Und diese Unannehmlichkeit fiel aus heiterem Himmel herab, immerzu und sehr zum Ärger des peniblen Geschäftsführers.
Es waren die Hinterlassenschaften der Krähen, die unentwegt vor dem Schaufenster herabfielen - eine weitere unerklärliche Eigenheit dieses Ladens. Denn das Dach des altehrwürdigen Stadthauses war, warum auch immer, über und über von Rabenkrähen bevölkert.
Diese Tiere waren eine echte Plage, tummelten sie sich doch ausschließlich auf dem Dach dieses Hauses. Den Grund für dieses absonderliche Verhalten konnte sich Valentin nicht erklären. Es gab hier nichts zu fressen und auch keine Bäume, in denen sie Nester bauen konnten. Es existierte an diesem Ort rein gar nichts, was ihm aus Krähensicht attraktiv erschien - und trotzdem waren sie allgegenwärtig, eine echte Plage eben.
Herr Zacharias hatte vor wenigen Tagen sogar einen Fachmann für Ungeziefer-Vernichtung beauftragt, sich des lästigen Problems anzunehmen (wie er es formulierte). Doch die seltsamen Tiere besaßen offenbar so etwas wie ein Gespür für heraufziehende Gefahren. Der Mann kam, inspizierte das Dach und musste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Kein einziger Vogel hatte sich während seiner Gegenwart mehr blicken lassen.
Doch kurz nachdem er gegangen war, ging das Gekrächze in luftiger Höhe von Neuem los, worauf sich Herr Zacharias gezwungen sah, abermals zum Hörer des würdevollen Telefons zu greifen.
Da hilft kein Giftköder , lautete der Kommentar des leicht genervten Experten, da die Tiere seiner Einschätzung nach gut organisiert wären und einen Vorkoster in ihren Reihen hätten. Diesen würde man sicher erledigen können, aber das wäre es dann auch schon gewesen. Der Mann meinte, dass man Krähen nicht umsonst die Fähigkeit nachsagte, Schlussfolgerungen zu ziehen...
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