Doch auf einmal drehte er sich um. Er schien gespürt zu haben, dass er beobachtet wurde. Sofort ging Valentin in Deckung, stolperte dabei und hoffte, dass ihn der Mann nicht gesehen hatte.
"Wo ist der Schlüssel?", donnerte dieser abermals. Und als Valentin den nächsten Blick riskierte, geschah Ungeheuerliches: Ein Flattern legte sich ganz plötzlich über seinen Kopf - ein Geräusch, wie es nur tausend Flügel erzeugen konnten. Es waren die Krähen.
Ja, die ganze Schar fiel in diesem Augenblick über ihn her, ganz so, als wäre sie von dem Widerling auf irgendeine geheimnisvolle Art und Weise befehligt worden. Ein riesiger Schwarm Rabenkrähen. Sie stürzten wie die Fallschirmjäger herab und hackten auf ihn ein. Das war zu viel. Entsetzt sprang er auf und ergriff schreiend die Flucht.
Kapitel 2 - ...und der Tod nahm Platz im Ohrensessel
Der Junge rannte und rannte. Doch zu Valentins Unglück erwiesen sich die Krähen als äußerst hartnäckige Verfolger. Sie scheuchten ihn quer durch die Altstadt und hackten weiter auf ihn ein - sehr zur Belustigung einiger Passanten, die den Jungen in dem seltsamen Anzug offenbar für eine Touristenattraktion hielten. Irgendwann aber ließ die Vogelschar von ihm ab und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
Als der glücklose Tollpatsch schließlich völlig außer Atem zum Antiquitätengeschäft zurückkehrte, saßen seine gefiederten Feinde wieder ganz friedlich auf dem Dach des alten Stadthauses und zupften Kraut aus dem Kopf ihrer geliebten Vogelscheuche.
Die Tür des Ladens ließ sich nun wieder anstandslos öffnen - ein Zeichen, dass der verrückte Riese längst das Weite gesucht hatte. Valentin machte sich dennoch auf das Schlimmste gefasst.
Zu seiner Verwunderung befand sich das tickende Theater des peniblen Herrn Zacharias aber noch im selben Zustand wie vor dem Auftauchen des Landstreichers. Und wenn er erwartet hatte, einen zitternden oder gar toten Mann anzutreffen, lag er ebenfalls falsch. Was hatte ihm Herr Zacharias vorhin noch geraten? Haltung bewahren, in jeder Sekunde, so wie die Zeit...
Und genau das tat er. Mit ruhiger Hand, ganz so, als wäre nie etwas geschehen, zog er eine goldene Taschenuhr aus einer Kommode.
"Nun", sagte er, "Diese Uhr hier hat schon viel erlebt. Sie hat einmal meinem Großvater gehört, der sie beim Ausbruch des Krieges an meinen Vater weitergegeben hatte, mit der Bitte, sie stets im rechten Augenblick aufzuziehen. Er tat dies in weiser Voraussicht, für den Fall, dass er vielleicht stürbe, inmitten all der Wirren, die so ein Krieg eben mit sich bringt. Seitdem ist sie immer regelmäßig aufgezogen worden. Ich habe es kein einziges Mal vergessen..."
"Hä?", machte sein schwitzender Angestellter und stammelte schließlich, weil ihm sonst nichts einfiel: "Und...ist er denn gestorben?"
"Gewiss", sagte Herr Zacharias. "Der natürliche Lauf der Zeit ist in diesen Fragen immer unerbittlich. Haben Sie die Bücher schon alle sorgfältig abgestaubt, Herr...äh..?"
"Hä?"
"Sie schwitzen ja", stellte der Alte unvermittelt fest. "Ist es warm, draußen..?"
Es machte keinen Sinn, den Antiquitätenhändler nach dem Grund der Auseinandersetzung zu fragen. Dieser Mann wäre wohl tatsächlich eher gestorben, als zuzugeben, dass hier, in seinem so akribisch geordneten Reich etwas nicht stimmte. Und noch weit weniger Sinn hätte es gemacht, ihn nach dem Inhalt dieser geheimnisvollen Kammer zu fragen, welche der Landstreicher erwähnt hatte. Valentin wusste zwar, dass in diesem Laden sogar zwei Nebenzimmer existierten, die Herr Zacharias stets verschlossen hielt, aber er war sich sicher, dass sich jede Frage nach deren Inhalt erübrigte.
Zwei Tage lang ging das Spiel mit den nicht gestellten Fragen und den noch weniger gegebenen Antworten weiter. Zwei Tage, in denen der Alte so tat, als hätte die Auseinandersetzung mit dem aggressiven Widerling nie stattgefunden.
Valentin hatte inzwischen sämtliche Bücher abgestaubt und dabei keine einzige Papierkäferlarve gefunden. Dachte er zumindest. Seine neue Aufgabe bestand nämlich darin, die vielen Lücken in den Bücherregalen mit neuen, oder besser, neuen alten Büchern aufzufüllen. Und kaum hatte ihm der Alte den verdammten Staubwedel in die Hand gedrückt, da passierte etwas, das Valentin nie für möglich gehalten hätte. Seelenruhig ging Herr Zacharias zur riesigen Standuhr und zog einen überdimensionalen Schlüssel heraus. Dieser gehörte zu einer der beiden Kammern - aber es war ganz bestimmt nicht jene, die die Aufmerksamkeit des Landstreichers erregt hatte. Eine wenig meisterliche Schlüsselumdrehung später konnte Valentin sehen, dass er mit seiner Vermutung richtig lag: Diese Kammer war nur mit weiteren Büchern gefüllt - einem wahren Gebirge aus Büchern.
"Ich habe diese Schriften vor einiger Zeit aus dem Nachlass einer alten Dame erstanden", erklärte Zacharias. "Sie müssen sie entstauben, nach Papierkäferlarven absuchen und dann in diese Regale hier einordnen. Natürlich in alphabetischer Reihenfolge, Herr...äh..."
"So viele?", stöhnte sein Gehilfe leise und ließ die Schultern hängen. "Super..."
In diesem Raum war es noch kälter als im übrigen Laden, so derart eisig, dass die Kälte hier schon förmlich über den Boden kroch. Eine gute Gelegenheit, dem Antiquitätenhändler eine nicht ganz unberechtigte Frage zu stellen: "Warum ist es in Ihrem Geschäft eigentlich immer so kalt?"
Herr Zacharias runzelte die Stirn. "Kalt, sagen Sie? Hier ist es doch nicht kalt, Herr...äh..."
"Na, dann sehen Sie doch mal auf das Wetterhäuschen dort, wir haben hier nur schlappe 13 Grad."
"Nein, nein, nein. Sie irren. Es sind 13, 2 Grad Celsius", verbesserte ihn der Alte.
"Aha. Und warum?"
"Weil dies eine angemessene Temperatur für all diese Gegenstände ist", erklärte sein Gegenüber. "Meine Aufzeichnungen über die Uhren beziehen sich nämlich grundsätzlich auf diese Temperatur. 13, 2 Grad Celsius, wobei die maximale Abweichung nicht mehr als ein halbes Grad betragen darf. Dies wäre nämlich eine Katastrophe."
"Aha."
"Sie müssen wissen, dass mechanische Uhrwerke sehr stark auf Temperaturschwankungen reagieren. Das Material verändert sich bei Wärme, so dass die Uhren dann meist ein wenig länger laufen. Das Chronographenkompendium aber ist auf exakt 13, 2 Grad geeicht. Außerdem ist diese Temperatur gut für das Papier der Bücher. Es altert langsamer. Und Schädlinge wie der Papierkäfer fühlen sich bei dieser Temperatur nicht besonders wohl."
"Aha. Sie benützen also eine Klimaanlage?"
"Wie bitte? Nein, etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen."
"Wie schaffen Sie es denn dann, dass..."
"Vergessen Sie nicht, Herr...äh...", würgte der Mann die Frage einfach ab. "Sie müssen die Bücher sorgfältig entstauben und nach Papierkäferlarven absuchen, bevor Sie sie einordnen. Und äußerste Vorsicht bitte, einige dieser Werke sind noch handschriftlich verfasst."
"Ja, mach ich", stöhnte sein Gehilfe. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn Herr Zacharias bei seinen Antworten ähnlich großen Wert auf Präzision gelegt hätte wie bei seinen Uhren.
So machte er sich wieder an seine Arbeit. Der Alte setzte sich in seinen Ohrensessel und nahm bei Zeiten einen Blick in das Chronographenkompendium , um zu sehen, welche seiner geliebten Schützlinge als nächste mit den Zeichen der Zeit haderten.
Und wie Valentin erneut die Zeit verstaubwedelte, da wurde ihm bewusst, dass Herr Zacharias längst zum Gefangenen seiner tickenden Gesellschaft geworden war. Stunde um Stunde verstrich in diesem Laden, während das wahre Leben draußen vor dem Schaufenster vorbeizog. Es würde sich an diesem Ort nichts, aber rein gar nichts ändern, selbst wenn er noch Jahrzehnte hier verbringen sollte. Er würde Bücher abstauben, nach Papierkäferlarven Ausschau halten, in Windeseile altern und auf die nächste Fuhre Bücher warten. Bis der Tod ihn schließlich, aus reiner Barmherzigkeit...
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