Ich wollte nichts anderes als sterben.
Ich wollte wieder bei Justin sein, in seinen Augen, in diesen tiefen Brunnen versinken, seinen kalten Körper fühlen.
Es half alles nichts, nach ein paar Tagen holte Josh mich aus meinem selbst gewählten Gefängnis und stellte mich vor die Wahl. Entweder wurde ich wieder vernünftig, oder er lieferte mich persönlich an die Obrigkeit aus.
Seit Franks gewaltsamen und gar nicht tragischen Tod war ich Freiwild. Dennis machte seine Drohung tatsächlich wahr und verriet mich an den hohen Rat.
Sie hatten die Jagd auf mich eröffnet, es war nur eine Frage der Zeit, wann sie mich erwischten, wann auch ich in Flammen aufging.
Aber bis es soweit war, beschloss ich, mein Monster nicht mehr zu bekämpfen, sondern mich nur noch von ihm leiten zu lassen, mich dem Blutdurst und der Gier hinzugeben.
Kein Vertrauen, keine Liebe, kein Feuer mehr.
Alles hatte ich verloren, unwiederbringlich verloren.
Ich atmete die kalte Nachtluft ein, suchte weiter nach einem Geruch, nach meiner heutigen Beute.
Plötzlich und unerwartet umspielte ein zarter Duft meine Nase, leicht, luftig und süß. Ich hatte ihn gefunden, den Geruch, der mich heute Nacht ernähren würde, der mein Monster in mir für heute ruhig stellte.
Langsam öffnete ich meine Augen, sie waren gelb, Raubtieraugen, wie immer in letzter Zeit. Das harmlose, nette Braun meiner Augen war seit meinem Aufenthalt in Joshs Keller nicht wieder zurückgekehrt. Auch meine Zähne, diese zwei spitzen Dolche, kehrten kaum noch in ihren ursprünglichen Zustand zurück. Ich war jetzt ständig ein Vampir, Tag und Nacht, die ganze Zeit über. Kaum gestattete ich mir einen anderen Gedanken, als den an heißes, köstliches und frisches Blut.
Da war er wieder, der Geruch, der mir die heutige Nacht versüßen würde. Ich öffnete meinen Mund,
»Ah«, ich lächelte.
Das Monster in mir schrie und kreischte laut. Mein inneres Feuer loderte kurz und heftig auf, es wollte gelöscht werden .
Ich wollte, dass es gelöscht wurde mit dem herrlichen Duft und Geschmack. Ich machte einen Schritt nach vorne und fiel in die Tiefe …
Erschrocken riss ich meine Augen auf. Dunkelheit umhüllte mich, ich musste ein paar Mal zwinkern, damit ich klarer sehen konnte. Die restlichen roten Nebelschwaden verzogen sich gerade. Ich war wohl in meiner Wolke der Erinnerung eingetaucht.
Ich kann nicht schlafen, also kann ich auch nicht träumen. Ich kann mich nur erinnern an vergangene Ereignisse.
Es war wie ein Traum, gemischt mit Ereignissen, die tatsächlich geschehen waren.
Ich setzte mich auf. Eben erst hatte ich mich in meinem Wohnzimmer auf das Sofa gelegt, daran konnte ich mich noch deutlich erinnern. Der Rest war überlagert von einem rötlichen Dunst. Dazwischen tauchte immer wieder Justins Gesicht auf. Seine Zähne blitzten, seine schönen Augen sahen mich hungrig an, sie wurden zu Raubtieraugen, dann wieder braun, die Zähne blitzten. Es war wie in einem Wirbelsturm, immer wieder die gleichen Bilder, immer schneller flogen sie an mir vorbei.
Ich schüttelte meinen Kopf um ihn frei zu bekommen und stand auf, ich hatte Durst.
Die Ereignisse im letzten August, sie waren so weit entfernt und doch war es so, als wäre alles erst gestern geschehen. Neun Monate war es jetzt her. Eine kurze Zeitspanne, für einen Vampir, doch kam es mir wie Jahrzehnte vor. Die Zeit schleppte sich dahin, wenn man alles verloren hatte, wenn man an nichts mehr glaubte, wenn man tot war.
Ich ging zu meinem Kühlschrank und holte mir eine Büchse Konservenblut, das ich langsam in ein Glas schüttete und der Mikrowelle anvertraute. Während ich auf das leise Pling wartete, ließ ich mir durch den Kopf gehen, wo ich heute Nacht hin könnte. Das leise Summen meines Handys unterbrach meine Gedanken. Misstrauisch ging ich ran
»Ja-a?«, ich hasste dieses Telefon.
»Hi, Natascha. Hier ist Josh.« Als hätte ich ihn nicht schon an der Stimme erkannt.
Das Blut war auf Temperatur und ich nahm es aus der Mikrowelle.
»Hallo Josh.«, meine Stimme war reserviert. Bei ihm wusste ich nie so richtig, wie ich mich verhalten sollte. Unsere Beziehung war so … merkwürdig, so zwiespältig.
»Bist du gerade beim essen?« Ich konnte das Schmunzeln in seiner Stimme hören, er hatte wohl das leise Geräusch der Mikro mitbekommen.
»Was gibt’s Josh?« Ich seufzte und trank einen großen Schluck, es breitete sich sofort eine herrliche Wärme in meinen Eingeweiden aus, schlagartig fühlte ich mich besser, wohler.
»Hast du Lust vorbeizukommen? Wir könnten ein bisschen … quatschen.«
»Josh, ich weiß nicht«, ich hielt das Glas vor mein Gesicht, es war bereits leer.
»Komm, Süße«, seine Stimme wurde bittend, »ich lade dich auch zu einem Drink ein.«
Ich hatte wirklich keine Lust dazu, aber ich kannte mich und Josh.
Er würde mich irgendwie rumkriegen. Nur würde ich mich später wieder über mich selbst ärgern, weil er wieder die unausweichlichen Fragen stellte. Weil er die Wörter aussprach, die ich auf keinen Fall hören wollte. Er würde mich Dinge fragen, über die ich lieber schweigen mochte.
»Wir werden auch nicht alleine sein«, setzte er hinzu und seufzte leise.
Da sah die Sache schon anders aus, mit einem Zuhörer, würde ich um seine quälenden Worte und Fragen vielleicht herumkommen.
»Wer denn?«, fragte ich neugierig geworden.
»Das wirst du schon sehen«, meinte er knapp, »kommst du?«
»Ja. Gib mir noch zwanzig Minuten, okay?«
»Ich freue mich, bis dann, meine Süße«, er legte auf.
Ich trank den Rest von meinem warmen Blut und spülte das Glas anschließend heiß aus.
Dann schnappte ich mir meinen Bandit Helm und ging im gemächlichen Tempo in meine Tiefgarage.
Mein heißgeliebter 66er Mustang stand immer noch in einer Werkstatt und wurde hingebungsvoll neu aufgebaut. Nachdem er im letzten Sommer einen wahren Todeskuss mit einer Fichte mitmachte, und ein wütendes Monster in ihm tobte, wurde er fast für tot erklärt. Aber der Mechaniker in der Werkstatt hatte ein Herz für mich und meinen roten Flitzer. Er hatte versprochen ihn mir zu reparieren, wenn ich nur genug Zeit hatte.
Da Zeit bei meinem Lebenswandel mehr als genug vorhanden war, hatte ich natürlich zugesagt.
Zumal er mir als Übergangsfahrzeug ein Motorrad lieh. Motorradfahren, war noch besser als Autofahren, selbst wenn es so ein klasse Wagen wie mein 66er Mustang war.
Aber das Motorrad konnte sich auch sehen lassen und ich war damit schneller unterwegs, als mit meinem Roten.
Da stand sie, auf meinem alten Parkplatz mit der Nummer 666 . Eine Honda Fireblade CBR 1000 RR , ein Superbike mit einhundert zweiundsiebzig Pferdchen. Der schwarz-rote Lack glänzte, blitzte und alles an der Kiste schien zu röhren und zu brummen: Fahr mich, schwing dich drauf und rase mit mir durch die dunklen Straßen. Los, fahr mich.
Ich musste ein bisschen grinsen und zog mir den Helm an. Als ich die Honda startete, war es so als erwacht unter mir ein Monster. Aber kein Monster, das tötete, ein Monster das schnell sein wollte, eines das sich bewegen wollte.
Ein gutes Monster.
Ich fuhr aus der Garage und in Richtung Innenstadt zu Joshs Buchladen.
Ich parkte mein Motorrad genau vor seiner großen Fensterfront und ging hinein. Das zarte Glöckchen ertönte, dieses Glöckchen, das überhaupt nicht zu diesem Hexenladen passte. Weder zu der Einrichtung, noch zu den vielen tausend Dingen, die man hier erstehen konnte. Und ganz bestimmt nicht zu dem Vampir hinter dem Tresen, der, wie immer, auf seine Ellenbogen gestützt, mich munter anlächelte.
Er kam hinter seiner Verkaufstheke hervor und umarmte mich.
»Hi, meine Süße, wie geht es dir?« Er hielt mich auf Armeslänge fest und blickte mir fragend in die Augen.
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