Ich sah mich um, ich kannte die Gegend, in der wir uns befanden. Wir waren nur ein paar Kilometer von meinem früheren Zuhause entfernt. Hier ging ich damals oft spazieren. In einer Zeit, wo ich Vampire nur aus Büchern und Filmen kannte.
Ich überlegte, ob Dennis den gleichen Weg eingeschlagen hätte, wenn ich nicht vor zehn Jahren ihn und den Rest meiner Familie verlassen hätte. Vielleicht wäre aus ihm ja ein guter Junge geworden, wenn ich nur geblieben wäre.
Ich verscheuchte die trüben Gedanken, jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. Er hatte diesen Weg gewählt, den für ihn richtigen Weg, es war seine Entscheidung.
»Tascha, alles okay?«, flüsterte Justin neben mir. Mein Gesichtsausdruck hatte meine Gedanken wohl verraten. Ich warf ihm aus den Augenwinkeln einen raschen Blick zu.
»Ja, ist schon gut. Komm, lass uns weitergehen. Sie müssen hier irgendwo sein. Halt die Augen offen«, ich stockte, »verzeih.« Aber Justin grinste nur.
Plötzlich erschallte ein lauter Ruf durch den Wald.
»Tascha, hier sind wir.« Die Vögel flogen mit lautem Geschrei davon. Ich zuckte zusammen, und tauschte einen schnellen Blick mit Justin. Ich wusste, wo das herkam, ich kannte mich hier aus. Weiter vorne war eine kleine Lichtung, nur ein paar Meter im Durchmesser. Aus dieser Richtung kam Franks Ruf.
Justin und ich liefen los.
Wir wurden erst langsamer, als wir die Stelle erreichten. Am Rand der kleinen Lichtung stoppten wir. Mittendrin standen Frank und Dennis. Ich hatte nur Augen für meinen Sohn und ging ein paar Schritte auf ihn zu. Er wurde unsicher, tauschte einen raschen Blick mit Frank und stolperte ein paar Schritte zurück.
Ich geriet ins Stocken, hielt an und zog die Augenbrauen zusammen. Ich blickte vor mich ins Gras. Ich hatte einen kurzen Geruchsfetzen von Dennis aufgeschnappt, der das bisschen Blut in mir zu Eis gefrieren ließ.
»Nein, das hast du nicht gewagt.«
Meine Stimme war nur ein Hauch.
»Oh doch.« Frank lachte trocken auf.
»Das ist doch besser, als hätte ich ihn umgebracht. Viel besser.«
»Nein.« Erneut kam nur der Hauch einer Stimme aus meiner Kehle.
Dann rannte ich los, ohne Vorwarnung, aus dem Stand. Ich wollte Frank umbringen, ihn zerquetschen, mit meinen bloßen Händen seinen Kopf abreißen und damit Fußball spielen.
Er hatte mit meiner Reaktion gerechnet. Meine Augen verrieten mich, sie wurden, im Bruchteil von einer Sekunde, zu Raubtieraugen. Das hatte er bemerkt.
Er trat nur einen großen Schritt zur Seite und ich lief ins Leere. Ich schlug einen kleinen Bogen und stürzte mich erneut, mit einem Bärengebrüll, auf ihn.
Kurz bevor ich ihn erreichte, packte Dennis meine Arme und hielt mich eisern fest.
Mein eigener Sohn hielt mich fest, hinderte mich daran denjenigen auszuschalten, der ihm das antat. Der ihn zum Vampir machte. Mein eigener Sohn. Ich war fassungslos.
Ich sah mich um und suchte nach Justin. Der stand immer noch am Rande der kleinen Lichtung, die Arme leicht vom Körper abgespreizt, den Kopf in den Nacken gelegt. Bis hierhin hörte ich das drohende Knurren, das aus seinem Inneren kam.
Plötzlich schoss sein Kopf nach vorne. Ich blickte in gelbe Augen – das linke war wieder vollständig hergestellt – und sah seine Zähne, lang und spitz.
»Justin«, schrie ich ihn an, er hörte mich scheinbar nicht. Knurrend stand er da und fixierte mich.
»Er kann dich nicht mehr hören«, sagte Frank sanft zu mir, dabei kam er ein paar Schritte auf mich zu.
»Es ist aber auch zu schade, dass du ihn nicht getötet hast. Wo du doch so scharf auf sein Blut warst.« Er grinste hämisch.
»Dann wäre ich dich bequemer losgeworden. Dann hätte dich der hohe Rat töten können. Nein, töten müssen . Du hast einfach zu oft die Regeln missachtet, zu oft Unschuldige getötet. Der hohe Rat hatte meinen Clan schon unter Beobachtung. Früher oder später hätten sie mir die Macht entzogen. Hörst du MIR!« Frank brüllte mich an, dann lachte er kurz und vollkommen humorlos auf.
»Ich lebe schon seit über vierhundert Jahren in dieser Welt und lasse mir nicht von einem Vampirneuling, wie dir, meinen Clan wegnehmen. Ich habe dich mehr als einmal gewarnt, Tascha.« Frank umrundete mich und Dennis, der immer noch eisern meine Arme festhielt.
»Dann kam Dennis dazwischen, ich dachte mir schon, dass du ihn nicht töten wirst, darum schickte ich Tom und Elisabeth. Ich habe sie zwar auf Dennis angesetzt, konnte mir aber vorstellen, dass sie dich auch erwischen wollten. Schließlich habe ich ihnen erzählt, dass deine unkontrollierten Taten für die Zerschlagung des Clans verantwortlich sind. Wie du weißt, waren beide mir sehr ergeben. Wie du es allerdings geschafft hast zusammen sechshundert Jahr Vampirdasein zu töten, ist mir bis heute ein Rätsel« Er schüttelte den Kopf, ich nutzte die kleine Redepause.
»Darf ich auch mal was fragen?« Frank hob eine Augenbraue und blickte mich an.
»Bitte.«
»Warum hast du mich nicht einfach aus dem Clan geschmissen? Mich aus der ganzen Stadt verbannt, von mir aus auch aus diesem Land. Warum willst du mich töten?«
»Weil du schlecht bist«, brüllte er, kaum dass ich meine Frage zu Ende gestellt hatte.
»Weil du niemals den Kodex einhalten wirst, egal wo du bist. Weil du schlechtes Blut hast … und … weil du böse bist!« Verachtung war in seiner Stimme zu hören. Meine Gedanken kreisten wie Bienen um den Honig.
Ich bin schlecht?
Ic h habe schlechtes Blut in mir?
…
Aber es war doch sein Blut, was mich letztendlich zu dem gemacht hat, was ich bin. Also ist sein Blut schlecht.
In meinem Kopf klickte es kurz, als wenn ein Schalter einrastete.
Es war nicht, dass er Angst hat, seinen Clan zu verlieren, oder seine Macht. Es hatte auch nichts damit zu tun, das ich Unschuldige aussaugte. Oder den Kodex mit Füßen trat.
Es war einzig und alleine seine Angst ER könnte schlechtes Blut haben. Er könnte ein Träger des bösen Blutes sein.
Seit es Vampir gab, existierte die Angst, einer von ihnen könnte der sogenannte Träger des bösen Blutes sein. Das waren Vampire, die böses Blut in sich trugen, keiner wusste, wo es her stammte, sie müssten es noch nicht einmal selber spüren, aber bei einer Verwandlung gaben sie es weiter. Der Vampirneuling mutierte zum mordenden Monster, das nur zwei Dinge kannte, töten, und den Hass auf seinen Erzeuger.
Träger des bösen Blutes zu sein, war mit einem Todesurteil gleichzusetzen.
Wenn der neugeborene Vampir den Träger nicht erwischte, sprach es sich irgendwie herum und der hohe Rat machte Jagd auf ihn. Träger des bösen Blutes zu sein war eine Schande.
Frank hatte mir, bei der endgültigen Verwandlung, ein paar Tropfen seines Blutes zu trinken gegeben, so wurde das gemacht, damit die Verwandlung vollständig war.
Und jetzt hatte er Angst, ja Panik, sein Blut könnte verunreinigt sein.
Ich musste grinsen, das war der totale Schwachsinn. Der größte Blödsinn, den ich je hörte.
Ich fing an zu kichern, ich konnte nichts dafür, es überkam mich einfach. Frank starrte mich entsetzt an. Das fand ich noch viel witziger und lachte lauthals.
Ich blickte in Franks hasserfüllte Augen und musste nur noch mehr lachen.
»Ein uralter Vampir hat eine hysterische Angst, dass sein Blut, das er einem Grünschnabel verpasst hat, schlecht geworden ist.« Ich prustete vor mich hin, dann kam der nächste Lachanfall.
»Ha, ha, ha«, ich konnte nicht mehr, gleich konnte ich mich vor Lachen nicht mehr auf den Beinen halten.
Plötzlich sah ich, im hellen Licht der Sonne, etwas glitzern. Zwei Stimmen schrien gleichzeitig: »Vorsicht!«
Ich hatte eine von den Stimmen erkannt, es war Justin, er schien wieder normal zu sein. Die andere kam abermals aus meinem Inneren.
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