1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Hanna hörte ihm gerne zu, und deshalb fragte sie weiter nach seiner Arbeit.
„Und wenn du nicht gerade an Bildbänden arbeitest, was fotografierst du dann?“
„Das Übliche halt. Alle möglichen Leute, die Portraits von sich wollen oder schnell mal Passfotos brauchen. Ich gehe in Schulen und Kindergärten oder ich fotografiere auf Hochzeiten, Schützenfesten und so weiter.“
Das stellte Hanna sich nicht gerade spannend vor.
„Ich hätte nicht gedacht, dass dir so etwas einmal Spaß machen würde. Ich dachte, du würdest im Sägewerk arbeiten und mit Simon irgendwann einmal den Laden übernehmen.“
„Simon und ich verstehen uns nicht mehr so gut. Und Papa kann nur Chef sein. Auf Dauer wären wir alle aneinander geraten. Simon macht seinen Job gut und wird ein würdiger Nachfolger sein. Seit der Sache mit Silke geht er mir nur noch aus dem Weg. Ich wusste nicht, dass er in sie verliebt ist.“
Hanna wusste nicht, wovon er sprach. Harald hatte nichts von Silke und den Brüdern erzählt.
„Was war denn mit Silke?“
„Ach so, das weißt du ja gar nicht“, und er erzählte ihr von seiner kurzen Beziehung mit Silke und dem dramatischen Ende, in das das halbe Dorf involviert war.
Die Trennung war nicht nur für Silke eine Demütigung, sondern auch für ihre Eltern, die schon in den Hochzeitsvorbereitungen steckten, ohne ihn davon in Kenntnis gesetzt zu haben. Und das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass seine Eltern eifrig mitplanten.
Die Krönung des Ganzen nach Silkes Auszug war Simons Wutausbruch. Ein paar Tage später stand er sturzbetrunken vor Christians Tür und hatte eine Prügelei angefangen, weil er Silke nur ausgenutzt hätte. Dabei stellte sich dann raus, wie lange er schon in Silke verliebt war und ließ seine ganze Wut an seinem jüngeren Bruder aus.
Er hatte Silke nie geliebt, er war noch nicht mal in sie verliebt gewesen. Er war auf dem letzten Schützenfest leider zu betrunken gewesen und sie hatte die Gunst der Stunde genutzt. Und leider war er zu feige, das Ganze sofort wieder zu beenden, bevor es richtig anfangen konnte. Als er den Mut endlich aufbrachte, war es zu spät und ein dramatisches Ende ließ sich nicht mehr verhindern.
Trennungen gab es in Rothwald nicht- bis dass der Tod sie schied. Er lebte einfach schon zu lange hier, um gegen die Normen des Dorfes verstoßen zu können, und doch hatte er es getan. Wie er den Mut dazu fand, war ihm selbst nicht ganz klar, es zählte nur, dass er es geschafft hatte. Der Preis war: eine Woche lang Gesprächsthema Nummer eins auf der Dorftratschliste zu sein, und die weiblichen Hälfte von Rothwald strafte ihn mit bösen Blicken.
So schnell wie das Trennungsthema begann, war es auch schon wieder beendet. Er hatte Gott sei Dank genug Arbeit mit seinem Fotobildband und dem Atelier, sodass er die meiste Zeit vom Getratsche verschont blieb. Nach der Präsentation des Bildbandes war alles vergessen und sein Ruf wieder hergestellt.
Hanna spürte einen Stich der Eifersucht und Erleichterung zugleich. Sie hatte immer geahnt, dass Silke hinter Christian her war. Ihrer Ansicht nach passten die beiden nicht zusammen, sie waren viel zu unterschiedlich. Das Hausfrauenimage passte gut zu Silke. Sie konnte sich Christian als liebevollen Ehemann und Vater vorstellen, aber nicht unter einem Dach mit Silke. Es freute sie, dass er seinen Fehler eingesehen und womöglich Schlimmeres für sich selbst verhindert hatte, indem er diese Beziehung beendete. Silke und Christian als Paar wollte sie sich nicht weiter vorstellen und wechselte das Thema.
Sie fragte nach den anderen aus der Clique, zu der sie schon lange nicht mehr gehörte.
„Was machen denn Carla, David, Tobias und Miriam? Sind sie auch noch fest verwurzelt oder erobern sie die große weite Welt außerhalb von Rothwald?“
„Carla lebt seit zwei Jahren bei ihrer Oma in Ansbach, weil diese nach dem Tode des Opas alleine nicht mehr zurechtkommt. Miriam arbeitet hier im Kindergarten und ist mit David verlobt. Der studiert zurzeit noch in Köln Maschinenbau. Er ist in etwa zwei Jahren fertig und dann wollen sie heiraten. Sie bauen bei Miriams Eltern an. Nach dem Studium wird er im Betrieb von Miriams Vater arbeiten. Tobias ist Bäcker geworden und arbeitet bei Felix in der Backstube. Nach der Schule sind die beiden Cliquen auseinander gegangen. Es hat sich dann schnell eine neue Ober- und Unterdorfclique gebildet. Noch so eine Tradition, die wohl ewig hier Bestand haben wird und nur den coolen Teens jeder Generation vorbehalten ist, sie fortzusetzen. Das ganz normale Dorfleben geht also seinen Gang, du hast nichts Spektakuläres verpasst“, fasste er seinen Kurzbericht zusammen.
Hanna wusste nicht, worüber sie noch mit Christian nach all der langen Zeit reden sollte. Sie wechselte zum einzigen Thema, das ihr einfiel.
„Siehst du dir mit mir den Bildband an? Mit Audiokommentar des Künstlers bekommt Bilderbuch angucken ein ganz anderes Flair.“
„Ja gerne. Ich hole ihn eben.“
Hastig stellte Christian seine Tasse zur Seite und hätte sie dabei fast umgestoßen. Er verließ die Wohnküche, öffnete die Tür zu einem anderen Raum und erschien kurz darauf mit dem Buch.
Christian nutzte die Gelegenheit und schob sein Kissen neben sie, so konnte er ihr ein bisschen näherkommen. Hanna nahm ihm das Buch aus der Hand und legte es sich auf die Beine. Ihren Kaffee hatte sie getrunken und fragte nach einem weiteren. Mit einem zweiten Kaffee begannen die beiden eine hundertjährige Zeitreise durch Rothwald.
Der Autor konnte zu allen Bildern eine Geschichte erzählen, und so bekam ihr Geburtstagsgeschenk einen anderen Stellenwert. An diesen Geburtstagsabend würde sie sich gerne zurückerinnern. Der Tag war ihr nicht wichtig gewesen, und deshalb erwähnte sie ihn nicht.
Nachdem Hanna das Buch durchgeblättert hatte, dachte sie an ihre Großeltern.
„Hast du auch mit meinen Großeltern über Fotos gesprochen?“
„Ich habe deinen Opa mal zufällig getroffen und ihn nach Beiträgen gefragt. Er meinte, sie hätten keine alten Fotos mehr, weil vor langer Zeit bei einem Brand alles vernichtet wurde. Und die Familie deiner Oma wäre auch nicht aus Rothwald“, erklärte er ihr.
Bei seinem letzten Satz stutzte Hanna, denn sie war davon ausgegangen, dass ihre Großmutter genauso wie ihr Großvater in Rothwald aufgewachsen war.
Hanna warf einen Blick auf ihre Uhr, für sie war es Zeit zu gehen.
„Es ist schon spät, ich sollte langsam nach Hause gehen.“
Sie drückte Christian den Bildband in die Hand und stand auf. Ihr war Ordnung wichtig, und deshalb legte sie ihr Kissen zurück auf den Stuhl und stellte ihre Tasse auf den Tisch. Sie nahm ihre Jacke vom Stuhl, zog sie an und bedankte sich für den schönen Abend.
„Wenn du magst, können wir uns in den nächsten Tagen nochmal treffen. Ich kann nicht nur guten Kaffee kochen, sondern auch ganz passabel kochen“, lud Christian Hanna ein weiteres Mal zu sich ein.
„Mal sehen, wir können ja telefonieren“, sagte sie zurückhaltend.
„Oder du kommst einfach morgen Abend wieder her. Um sieben Uhr bin ich zu Hause“, schlug Christian vor.
„Gute Nacht, Christian“, verabschiedete sich Hanna.
„Es ist schön, dich wieder hier zu haben“, sagte er zum Abschied und nahm sie dabei in den Arm.
Hanna erwiderte nichts darauf und machte sich auf den Heimweg. Es war gleich drei Uhr und lange her, dass sie um diese Zeit diese Straße entlangging.
Als der Brief von der Schule eintrifft, bin ich schon zu Hause. Minka hat in der Nacht ihre Jungen bekommen. Nach dem Unterricht renne ich los, so schnell ich kann. Ich will mir die Kleinen in Ruhe ansehen, ohne meine Brüder.
Unsere Katze hat sich im hinteren Teil der Scheune ein gemütliches Plätzchen für sich und ihre Babys ausgesucht. Ich nähere mich der maunzenden Familie, als ich ein lautes Schluchzen höre. Es ist Mutter, die mit einem Blatt Papier im Eingang der Scheune steht und bitterlich zu weinen beginnt. Einen Augenblick später erscheint Vater, der Mutter in den Arm nimmt und sie tröstet.
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