„Ein Kaffee wäre jetzt gut zum Aufwärmen“, nahm sie Christians Angebot an.
Sie wussten gerade beide nicht, worüber sie reden sollten. Deshalb gingen sie schweigend das kurze Stück zu Christians Haus.
Zielstrebig führte er sie in seine Wohnküche, in der ein Ofen eine wohlige Wärme von sich gab.
„Nimm doch Platz und mach‘ es dir bequem. Ich schmeiße eben die Kaffeemaschine an“, sagte er und zeigte auf sein Sofa.
Hanna zog ihre Fließjacke aus, hängte sie über den nächsten Stuhl und stellte sich an den Ofen. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, um sie schneller aufzuwärmen. Die feurige Glut strahlte eine Wärme aus, die mit der einer Heizung nicht zu vergleichen war.
Ihr wurde schnell warm, und sie zog auch ihre Schuhe aus. Für einen kurzen Moment hatte sie vergessen, dass sie sich in einem fremden Haus befand. Sie nahm ein Kissen von einem der Stühle, die hinter dem Küchentisch standen, und legte es auf den Boden in Ofennähe. Sie ließ sich im Schneidersitz darauf nieder und beobachtete das Schauspiel des Feuers. Das Rauschen und Knacken in seinem Innern ließ Hanna alles um sich herum vergessen. Sie hatte sich noch nie so geborgen gefühlt. Sie fühlte sich plötzlich zu Hause.
Hannas selbstverständliches Handeln faszinierte Christian. Sie war ganz anders als Silke. Während er in der Ecke am Fenster stand und auf den Kaffee wartete, beobachtete er sie. Er konnte seinen Blick gar nicht von ihr abwenden. Sie hatte sich so sehr verändert. Aus dem schüchternen, kleinen Mädchen war eine schöne junge Frau geworden, die sich scheinbar genauso gerne am Feuer niederließ wie er. Er konnte stundenlang davor sitzen und an nichts denken.
Die bunten Bänder in ihren blonden Haaren passten gut zu der neuen Hanna so wie auch der quietschgrüne Pullover. Die bunten Farben verliehen ihr so viel Lebendigkeit. Sie hatte immer noch lange Haare. Über diese Feststellung musste er lächeln.
Christian hatte ihre Haare schon immer schön gefunden. Leider hatte er sie in all den Jahren nur einmal in ihrer vollen Pracht gesehen. Sie trug ihre Haare nie offen oder zu einem Zopf, so wie die anderen Mädchen. Hanna hatte ihre immer zu einem Dutt eingedreht. Nachdem er einmal das Glück hatte, sie mit langen Haaren zu sehen, traute er sich nicht ihr zu sagen, wie schön sie mit offenen Haaren aussah. Er war sich nicht sicher, ob sie es missverstanden hätte.
Als der Kaffee durchgelaufen war, füllte er ihn in zwei große Kaffeebecher um, löschte das Küchenlicht und ging mit den heißen Tassen zum Ofen. Er reichte eine an Hanna weiter, und nahm sich ebenfalls ein Kissen vom Stuhl. Er ließ es ihr gegenüber fallen und setzte sich mit seinem Kaffee zu ihr.
Die Hitze, die das Feuer verströmte, überfiel ihn, und er begann leicht zu schwitzen. Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Jacke noch trug und stand wieder auf. Er zog sie aus, warf sie über eine Stuhllehne und legte zwei Holzscheite nach. Die Flammen loderten auf, um sie in ihre Arme zu schließen. Die Scheite fingen sofort Feuer, und Funken flogen wild umher, begleitet von einem lauten Knacken.
Hannas Augen leuchteten bei dem neuen Feuerspektakel vor Freude auf. Christian fragte sich, ob es so wenig brauchte, um sie glücklich zu machen. Er konnte nicht anders, er musste sie immer wieder ansehen und sich mit der neuen Hanna vertraut machen oder aber die alte neu entdecken.
Er setzte sich wieder zu ihr und nahm seine Tasse in beide Hände. Hanna schaute den Flammen noch immer bei ihrem Spiel zu, und Christian hätte am liebsten die Zeit angehalten, um ihr ewig den Moment des Glücks zu schenken.
Im Glas der Ofentür sah Hanna, dass Christian sie beobachtete, aber es störte sie nicht, denn sie beobachtete ihn auch. Seine blauen Augen strahlten noch immer wie ein tiefer Ozean, in dem man ertrinken konnte. Seine Frisur war noch die gleiche. Seine braunen Haare bildeten einen schönen Kontrast zu seiner Augenfarbe. Sein freundliches Lächeln rundete für sie sein gutes Aussehen ab. Für ihr Empfinden sah er sogar noch besser aus, als sie ihn als Teenager in Erinnerung hatte.
Hanna trank einen Schluck ihres Kaffees und drehte sich dann langsam zu Christian um.
„Der ist gut, das hätte ich nicht gedacht. Du kannst guten Kaffee kochen“, begann sie ein Gespräch.
„Danke. Aber wenn man süchtig nach diesem Zeug ist, kriegt man das wohl irgendwann hin. Wie lange wirst du zu Besuch bleiben?“, wollte Christian wissen.
Bevor Hanna seine Frage beantwortete, überlegte sie kurz und gab ihm dann eine Erklärung für ihren Aufenthalt.
„Ich habe gerade zwei Wochen Urlaub, aber ich werde wahrscheinlich nicht so lange bleiben. Es ist nur ein Besuch. Ich muss ja bald wieder arbeiten“, fügte sie noch schnell hinzu. Damit stellte sie sofort nachdrücklich klar, dass ihr Aufenthalt in Rothwald nur von kurzer Dauer war.
„In Rothwald hat sich kaum etwas verändert“, meinte Christian.
„Ja, das hat Harald mir schon erzählt“, stimmte sie ihm zu.
Christian wollte dieses belanglose Gespräch nicht weiterführen. Solche Gespräche konnte er hier jeden Tag zu Genüge haben. Er wollte endlich alles über Hannas Leben außerhalb von Rothwald wissen.
„Wenn du nicht gerade zu Besuch bei deiner Familie bist, wie lebt es sich denn in München?“, fragte Christian.
Hanna stutzte über seine Frage und klärte ihn über ihre neue Heimatstadt auf. In wenigen Sätzen erzählte sie ihm von ihrem unspektakulären Leben in Hamburg, was er scheinbar als spannend und aufregend empfand.
„Wenn es dich mal nach Hamburg zieht, kannst du mich gerne besuchen kommen“, lud sie ihn spontan zu sich ein. „Ich könnte mich dann mit einem Kaffee revanchieren“, sagte sie lächelnd.
„Das Angebot kann ich nicht ausschlagen. Ich habe eine neue Idee für einen Fotobildband, und dafür wollte ich nach und nach die Großstädte bereisen. Dann ist mein erstes Ziel schon klar- Hamburg. Ich wollte nächsten Monat mit der Arbeit beginnen und über die Wochenenden verreisen, damit ich mein Atelier nicht so lange schließen muss. Würde es dir nächsten Monat passen?“, fragte er Hanna direkt.
Hanna hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass er nach Hamburg fahren würde oder zumindest nicht sobald. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre Einladung aufrecht zu erhalten.
„Okay, ich werde mir dann das Wochenende freinehmen und dir Hamburg zeigen.“ Was rede ich denn da? Ich würde mich nur für den Kaffee revanchieren und nicht das ganze Wochenende mit ihm verbringen wollen. Sie hatte es ausgesprochen und konnte es nicht mehr zurücknehmen.
Hanna konnte ihrem Geburtstagsgeschenk, dem Fotobildband von Rothwald erst keine Begeisterung entgegenbringen, doch jetzt wo sie Christian gegenübersaß, wollte sie doch wissen, was ihn dazu bewogen hatte.
„Ich habe von meiner Familie den Bildband geschenkt bekommen. Ich hatte leider noch nicht die Gelegenheit, ihn mir anzusehen. Wie bist du auf die Idee gekommen, Rothwalds Leben in ein Buch zu pressen?“, war sie an seiner Arbeit interessiert.
„Es war eher eine spontane Idee. Ich hatte etwas bei meinen Eltern gesucht, und da ist mir ein Fotoalbum mit alten Fotos aus unserer Familie in die Hände gefallen. Ich dachte, es wäre eine schöne Idee, alte Erinnerungen festzuhalten und eine Art Chronik zu erstellen. Ich habe mein Anliegen im Dorf vorgestellt, und viele hielten es für einen guten Vorschlag. Sie haben dann selbst Fotos rausgesucht und mich mit den dazugehörigen Geschichten versorgt. Am Ende waren sie alle stolz, ihren Beitrag zum Buch geleistet zu haben. Es hat Spaß gemacht und mich auf eine neue Idee gebracht, wie zum Beispiel den Städtebildband, den ich demnächst machen möchte. Von Rothwald sind die letzten hundert Jahre zusammengefasst und ich könnte mir vorstellen, nach und nach weitere Bände zu erstellen, bis irgendwann die gesamte Geschichte erfasst ist“, erzählte er eifrig von seinen Ideen.
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