Blühende Wiesen, Felder, das Bauernhaus. Quer über den Hof kommt ´Räuber`, der Hirtenhund gelaufen. Amelie streichelt ihn, spricht lachend auf den Hund ein, fehlerfrei, ohne zu lispeln.
„Was ist denn? Was ist denn bloß los? Hörst du das? Hört ihr mich!“
Gemeinsam machen sie einen Rundgang zur Pferdekoppel, zum Schwein Philomena, begrüßen die Kühe auf der Weide, die beiden Perlhühner ´Pitti` und ´Putti`.
Amelie lacht, wirkt gelöst und glücklich, redet in einem fort, ganz dialektfrei.
„Ich kann s p r e c h e n! Ich kann ganz normal s p r e c h e n! Wie alle Kinder. Wie alle Menschen. Mamma, Lilo, ich kann alles reden was ich will. Hört doch, hört mich doch...“
Laut ratternd wird der alte hölzerne Rollladen hochgezogen. Das grelle Licht der Morgensonne blendet Amelie, die sich blinzelnd im Bett aufrichtet.
„Guten Morgen, großer Fernsehstar!“ sagt Lilo und gibt ihr einen liebevoll schwesterlichen Kuss.
„Sieben Uhr! Du übst wohl schon für deine Rolle, wat? Denn mal raus ausse Kiste, hier ist harte Realität, det wirkliche Leben! Mamma hat schon Frühstück fertig!“
Gnadenlos reißt sie das Fenster auf, Sonnenstrahlen kitzeln, kühle Morgenluft strömt herein.
Würde die Geschichte verfilmt werden, wären jetzt Schnittbilder im Zeitraffer angesagt, lesen tut es sich so: Im Kaufhaus wühlt Lilo in Bergen von Stoffen. Rollt die Ballen auf, schlingt ein paar Meter davon um die still daneben stehende Schwester, greift zum nächsten Ballen, schwätzt begeistert, ohne Punkt und Komma, auf Amelie ein. Ein Motorradfahrer saust durch die Innenstadt. Es ist Kevin, auf dem Gepäckträger hat er das Paket mit dem Stoff. In der Kosmetik Abteilung probiert Lilo Lippenstifte aus. Sie fühlt sich inzwischen selbst als Fernsehstar. Amelie steht bescheiden daneben, nimmt mit großen Augen teil am Geschehen und Lilo redet und redet.In der Souterrain Wohnung schneidet Mutter Kabunke den Stoff zu. Schüttelt hin und wieder den Kopf. Irgendwie kommt ihr die Sache merkwürdig vor, unrealistisch halt, so wie fast alles im Fernsehen.Eine Verkäuferin setzt Lilo Perücken auf, hält ihr verschieden farbige Haarteile an den Kopf. Es dauert einige Zeit bis Lilo sich erinnert, dass nicht sie es ist die beim Fernsehen mitspielen wird. Die Fachfrau Verkäuferin soll sich mal um Amelie kümmern. Die kleine Schwester ist der kommende Star!Beine mit Stöckelschuhen staksen durchs Bild. Ein Berg mit Schuhkartons liegt bereits auf einem Haufen. Amelie sitzt geduldig dabei.Mutter Kabunke lässt ihre Nähmaschine rattern. Es ist Nacht. Immer wieder schüttelt sie den Kopf, sie ist müde.
In ihrem Bett Amelie. Sie hat ein Frotteetuch um den Kopf gewickelt. Ruhig schläft sie, trotz der feuchten Haare. Auf dem Nachttisch tickt laut ein altmodischer Wecker. Jäh wird das friedliche Bild durch lautes Klingeln unterbrochen.
Amelie grapscht nach dem Wecker und stopft ihn unter die Bettdecke. Aber das Klingeln will nicht aufhören - weil an der Wohnungstür geklingelt wird. Der Fahrer von Gerok-Film hat es eilig. Er klingelt wieder und wieder. Ein Fenster im Souterrain öffnet sich, Lilo schaut raus und brüllt.
„Yo Mann! Sie kommt gleich!“
Der Fahrer nickt gleichmütig, er macht nur seinen Job und der heißt immer pünktlich sein, egal welchen Star er gerade zum Set fährt.
Im Hof sind jetzt Trippelschritte zu hören: Klack, klack, klack, klack! Zuvorkommend öffnet der Fahrer die Schiebetür vom Kleinbus mit der unübersehbar gut lesbaren Aufschrift: Gerok-Film GmbH.
Nachbarn, hinter Vorhängen verborgen, schauen neugierig hinaus. Auch Lilo und Mutter Kabunke sehen Amelie nach, die bereits im Wagen sitzt, der jetzt anfährt und aus dem Innenhof verschwindet. Eine mickrige Staubwolke bleibt zurück.
Das Bauernhaus hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem Hof aus Amelies Traum. Auch fehlen die Tiere, von denen Neumacher so viel erzählt hat. Dafür herrscht hektisches Treiben, die Fernsehleute richten das Motiv ein. Es werden Schienen gelegt, Lampen und Sonnenblenden herangeschleppt, verkabelt, abgekabelt, umgekabelt, alles nach Anweisungen des Oberbeleuchters, der wiederum seine Orders vom Kameramann erhält und der hat mit dem Regisseur schon gestern besprochen, wie die Szene gedreht werden soll.
Im Maskenmobil korrigiert die Maskenbildnerin das Make-up der älteren Schauspielerin, die die Mutter im Film darstellt. Gleichzeitig redet der Regisseur auf die Frau ein. Erzählt ihr worum es ihm in dieser Szene geht; zum wievielten Mal er das erzählt, weiß er vermutlich selber nicht. Der Regisseur ist nervös, das merkt jeder. Es ist seine erste Regie.
Denn bisher hat Neumacher lediglich als freier Drehbuchautor für´ s Fernsehen gearbeitet. Für den heutigen Drehtag aber, auf ausdrücklichen Wunsch des Produzenten, musste er die Verantwortung für alles was am Set geschieht übernehmen. Entsprechend aufgeregt ist er, der Regisseur Hilmar Neumacher. Das überträgt sich auf sämtliche Mitarbeiter, die kleinen Rädchen im Getriebe ganz unten, und die großen Macher weit oben. Deshalb also Hektik, Ärger, und schlechte Stimmung.
Einige Leute vom Team versuchen jetzt das Pferdefuhrwerk in die filmgerecht richtige Stellung zu bringen. Aber der Gaul will nicht so wie der Regieassistent es gern hätte.
„Probleme?“
Es ist Gerok, der Produzent, der aus dem Bauernhaus kommt und über den Hof schreit. Der Besitzer des Anwesens kann über das Durcheinander das die Filmleute anrichten nur den Kopf schütteln. Gerok klopft ihm beruhigend auf die Schulter. Alles geht seinen Gang und Freundlichkeit im Chaos vermeidet höhere Kosten.
Jetzt verlässt Neumacher das Maskenmobil, sieht sich suchend, ratlos auf dem Hof um. Der Produzent geht hinüber und ruft ihm laut und für alle vom Team verständlich zu.
„Langsam wird`s Zeit! Wo bleibt denn ´Das stille Leuchten`?“
Neumacher zuckt die Achseln, er ist für die Disposition nicht zuständig, das weiß Gerok natürlich, trotzdem wird möglichst der Regisseur für Verzögerungen verantwortlich gemacht, auch wenn er schuldlos ist weil die Aufnahmeleitung versagt hat, was schon mal vorkommt, denn die Damen und Herren dort sind hin und wieder von Drehbuch und Umsetzung überfordert.
Das sollte auch der Bauer vom Bauernhof als unbedarfter Zuschauer wissen, aber ihm hat vorsichtshalber keiner was erklärt, weshalb er auch keine Ahnung hat warum es bei Film- und Fernsehaufnahmen zugeht wie´s zugeht.
Endlich! Endlich kommt ein Auto den holprigen Feldweg zum Hof herauf gefahren. Aber es ist nicht der sehnlichst erwartete Kleinbus der Filmproduktion, sondern ein alter Opel.
Der Mann am Steuer hat sich offensichtlich verfahren, darauf macht ihn der aufgeregte Set-Aufnahmeleiter durch lautes Geschrei aufmerksam.
„Hey, weg! Fahren Sie weiter! Weiter, weiter! Sie sind mitten Bild, Mann!“ schreit er mit überschnappender Stimme obwohl noch gar nicht gedreht wird. Das scheint den Mann am Steuer sowieso nicht zu interessieren.
Jo Walder wendet, dreht eine Kurve, fährt so unaufgeregt von Hof wie er gekommen ist und macht Platz für den Kleinbus der Gerok-Film GmbH. Der Fahrer scheint die richtige Zufahrt verpasst zu haben, die ist ja vom feinsten geteert, aber egal jetzt. Auf ein Zeichen des Set-Aufnahmeleiters hält der Bus in einiger Entfernung vom Pferdefuhrwerk.
´Ein Engel geht durchs Zimmer` heißt es bei Film und Fernsehen, wenn urplötzlich und ohne sichtbaren Anlass alle Mitarbeiter stehen bleiben, die Arbeit liegen lassen, sich nicht mehr bewegen, wenn im hektischen Betrieb für eine Minute die totale Stille eintritt.
Ein Engel ist Amelie Karbunke sicher nicht, als sie zögerlich, ganz vorsichtig aus dem Auto steigt und über den mit holprigen Steinen gepflasterten Hof stöckelt.
„Das darf ja nicht wahr sein!“ stöhnt der Regisseur und Drehbuchautor Hilmar Neumacher und die Leute von Fernsehteam tun es ihm nach, wenn auch lautlos und hinter vorgehaltener Hand.
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