Jetzt hat der Produzent genug gehört, er dreht sich zu Neumacher um, sein Gesicht drückt aus was er denkt.
„Das Casino macht gleich zu, Neumacher! Rührend, armselig, unschuldig!
Wo sollen wir das hernehmen heutzutage?“
Aber Neumacher ist zu überzeugt von seiner Mission, davon will er sich nicht abbringen lassen, obwohl er in der Kantine Gast des Produzenten sein wird, also eingeladen ist. Das gehört sich so.
Die bescheiden gehaltene Räumlichkeit, das sieht man schon von außen durch die trüben Fenster, ist gut belegt mit hart arbeitenden Mitarbeitern, die sich auch am Vormittag keine Ruhe gönnen. Kaum einer von ihnen, der nicht gerade sein Handy benutzt oder sonst irgendwas twittert. Da macht auch so mancher ´Entscheider` keine Ausnahme, obwohl er eigentlich was anderes zu tun haben sollte, zum Beispiel über den großen Medien Wurf nachdenken, über das gänzlich neue, noch nie dagewesene Format, die innovative Sensation im spießigen Fernsehbetrieb, die den Sender hinauf katapultiert in eine Spitzenposition, auf Augenhöhe mit den großen, gebührenfinanzierten und täglich durch hohe Quoten ihre Existenzberechtigung nachweisenden Öffentlich/Rechtlichen. Solche Überlegungen gehen an den echten Kreativen natürlich vorbei. Und Neumacher ist so einer, wie er jetzt da steht, mit diesem echt glücklichen Ausdruck in seinem Dichter Gesicht.
„Ein Leuchten muss um diese Gestalt sein. Ja, das ist es: E i n s t i l l e s L e u c h t e n!“
Er bleibt mit einem völlig entrückten, verklärten Gesichtsausdruck stehen und breitet demonstrativ beschwörend die Arme aus. Ein Donnergrollen, nein, eher ein Gläserklirren ist die Folge. Neumacher scheint magische Kräfte zu haben, die möglicherweise Umweltkatastrophen auslösen.
Aber nur möglicherweise, denn um die Ecke, beim Eingang zur Kantinenküche, ist einer von den großen grauen Mülleimern umgefallen. Ein Kind, ein kleines Mädchen, hat das Geschepper und Geklirre offenbar ausgelöst, weil sie auf die Tonne gestiegen war um nach leeren Flaschen zu suchen. Jetzt sitzt die Kleine inmitten des Scherbenhaufens, aber anscheinend unverletzt.
Um die Ecke kommt neugierig Neumacher, will helfen, retten, bleibt stehen wie vom Donner gerührt und starrt das Mädchen an.
„Das ist sie!“
Ein einziger theatralischer Aufschrei. Gerok, schon halb drin in der Kantine, dreht sich Neumacher suchend noch einmal mal um und weil der verschwunden ist brüllt er einigermaßen verärgert.
„Wer?“
„Nicht zu jung! Nicht zu alt!“ ertönt es um die Ecke nahe beim Kücheneingang. „Nicht zu groß! Nicht zu klein! Und ein richtiges Kind! Keine Frage. Absolut Zeitgemäß! Sie i s t es!“ Wie von einem Magneten angezogen geht Neumacher auf das Mädchen zu.
Der Kleinen wird richtig unheimlich, das sieht man an ihren entsetzten Jungmädchen Augen. Immer wieder gibt es diese grausigen Geschichten, wo pädophile Männer sich an Kindern vergreifen und sie nach der abscheulichen Tat meist umbringen.
Was tut so ein Kind in höchster Gefahr: es klettert so rasch es kann aus dem Müllhaufen, lässt dabei ihre Plastiktüte fallen und versucht wegzulaufen. Neumacher spurtet hinterher.
„Bleib stehen! Ich will dich nur was fragen!“ schreit er atemlos, aber das Kind will nicht hören. Rennt zick-zack zwischen geparkten Autos hin und her und um sie herum. Neumacher folgt keuchend. Um einen besseren Überblick zu haben, klettert er auf ein Praktikabel. Das Mädchen geht, für Neumacher unsichtbar, hinter einem von zwei Arbeitern getragenen Versatzstück und steht plötzlich vor Gerok, dem allmächtigen TV-Produzenten.
„Du brauchst vor dem keine Angst zu haben“, sagt Gerok , „der hat selber Schiss in der Hose!“
Das Mädchen atmet schwer, antwortet nicht.
„Vor mir nämlich!“ lacht Gerok, ich bin sein Brötchengeber. „Darf ich dich was fragen?“
Das Mädchen starrt ihn an.
„Wie heißt du?“
Jetzt hat Neumacher die Kurve gekriegt und gesellt sich zu den beiden. Und beginnt sogleich sein Problem mitzuteilen.
„Hey, Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich heiße Neumacher und bin gerade dabei ...“
„Er ist Drehbuchautor und sucht für seinen Film, den ich bezahle, eine Hauptdarstellerin die genauso aussieht wie du! Jetzt ist es raus, Neumacher, sie braucht nur noch ja zu sagen und dann gleich ab zu einem Casting, okay?!“
„Zu einem Casting, richtig!“ sagt Neumacher.
Das Mädchen runzelt fragend die Stirn, antwortet aber nicht.
„Casting, so wie bei Heidi Klum, kennst du sicher, ja?“
„Kennt sie nicht, schöne Scheiße!“
„Stimmt!“ sagt Neumacher. „Ich meine nur ein Casting als solches, verstehst du?“
„Er meint ´ne Art Probeaufnahme, damit wir sehen wie du optisch rüberkommst. So sagen wir beim Fernsehen.“
„Aber doch nicht wie Heidi! Die ist hundert oder älter, hähähähä!“
„War nur so ein Vergleich, verstehst du?“
„Und - was läuft ...?“, fragt Neumacher und ist ganz hin und weg von der natürlichen Ausstrahlung des schweigenden Mädchens.
Eine Erinnerung kommt hoch, erdrückt ihn fast, obwohl die Geschichte schon länger der Vergangenheit angehört. Seine große Liebe ´Honey`, wie sie im Sender genannte wurde, die auf dem Schirm stets gewissenhaft fröhliche Blondine mit dem endlos langen Haar, auf Live-Ansage-Sendung schicklich frisiert, die Sauerkrautlocken schmeichelhaft um das mit dicker Schminke zugekleisterte Mädchen Gesicht drapiert. Das erste, was sie machen muss, dachte er damals, ist diesen Zopf abschneiden noch am selben Tag ihrer Bekanntschaft.
Und Teufel noch mal, sie tat es tatsächlich, ihm zu liebe und damit zugleich den wütenden Protest von tausenden Zuschauern in Kauf nehmend. War das ein Gefühl...
„Hey, großer Dichter!“ Der Produzent, unsensibel wie immer, unterbricht seine Erinnerungen. „Vielleicht erzählst du ihr mal, was in Deinem Film abgeht, Neumacher!“
„Yes, Sir! Was in meinem Drehbuch abgeht.“
„Für´ s richtige Fernsehen. Nicht Internet oder so ein Kram.“
„Nee, ist richtig Fernsehen!“
„Kein Porno, wie du vielleicht denkst!“
„Porno geht gar nicht!“
„Superseriös. Die Geschichte spielt auf dem Land!“ Gerok im Brustton der Überzeugung.
„Da gibt´s keine Sünd`!“ lacht Neumacher und findet sich witzig.
„Ähh, wie war gleich dein Name? Ich heiße Neumacher, Hilmar. Und er hier ist der Produzent.“
„Wolf-Günter. Von mir kommt das Geld, hahahaha!“
„Okay, und jetzt kommt die Geschichte, um die es geht.“
Gerok hat jetzt genug Charme versprüht. Er ist der Produzent. Er hat Hunger.
„Ich geh‘ schon mal rein, Leute. Die Story kenn´ ich. Gib ihr unsere Telefonnummer, ich bestell´ dir Tages ...“
„Tagesmenü, meint er“, sagt Neumacher zum Mädchen. „Okay, Boss, gebongt.“
Und weil er das Vertrauen des Mädchens gewinnen muss, fängt Neumacher an die leeren Flaschen einzusammeln, die den Sturz aus der Mülltonne überlebt haben. Die Kleine sieht ihm zu, stumm, verängstigt, eindeutig mit der Situation überfordert.
„Die Rolle, die du spielen sollst in meinem Film, heißt Klara und wohnt mit ihren Eltern auf einem kleinen Bauernhof. Drum herum sind grüne Wiesen und Wälder und ein Bach plätschert am Haus vorbei. Und natürlich gibt es auf dem Hof jede Menge Haustiere, also Hühner, Kühe, ein Pferd, süße kleine Kaninchen, ein Schwein ... „
Das Mädchen schluckt, hustet ein bisschen, aber Neumacher lässt sich bei der Beschreibung seines Werkes nicht unterbrechen.
„Dieses besondere Schwein ist ganz allein meine Erfindung. Ich bin nämlich der Autor von dem Film. Also, schön weiter zuhören, meine Dame.“
Das tut das Mädchen, nimmt den Erzähler aber nicht so richtig ernst, weil sich ein vorsichtig leichtes Grinsen auf ihrem Gesicht einstellt. Neumacher übersieht das, oder er tut so. Denn bei der Weiterentwicklung von kreativen Ideen lassen sich deutsche Fernsehautoren von nichts und niemand gern aufhalten.
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