Spätestens dann aber, nach einer kleinen Verschnaufpause und der gewonnenen Einsicht, dass man nun alle Themen wieder mal durch hat, löst sich der entstandene Frust auf in fröhlichem Gelächter, führt manchmal sogar zu mehrstimmig gesungenen treudeutschen Heimatliedern, abgelauscht aus Sendungen wie dem beliebten, gerade neu formatierten Musikantenstadel oder ähnlich unterhaltsamen Events aus längst überholten Zeiten. Das ist der Moment, wo auch Amelie ihre Sprache wieder findet und mit klarer fröhlicher Kinderstimme einsteigt:
´Tanderadei, Tanderadei, schön ist die Jugend, schön ist der Mai, doch noch viel schöner, Tanderadei, ist so ein Leben, in Liebe und Treu!` Und dann können alle drei nicht mehr vor Lachen, wegen diesen unerträglich schnulzig-klebrigen Kitschmelodien. Die Tatsache, dass Lilo sich jetzt mit Lachtränen in den Augen als Küchenhilfe anbietet ändert an diesen Abläufen nichts.
Das Schnippeln von Gemüse ist keine Spezialität von ihr, denkt Mutter Kabunke mit einem Seitenblick auf die farbenfroh lackierten Fingernägel der Ältesten und achtet dadurch weniger auf die eigenen Finger.
„Wieder mal ´ne Kochsendung gesehen, Mama?“
„Gibt´s noch was anderes im Fernsehen?“, kontert Mutter Kabunke.
„Scripted Reality zum Beispiel. Lebensnah und leicht verständlich für jedermann!“
„Stimmt. Da kochen sie auch.“
„Meistens wird gestritten.“
„Bei uns Gottseidank nie“, gibt sich Mutter Kabunke gelassen um gleich darauf weniger gelassen aufzuschreien. Beim Zerkleinern der gelben Rüben war offensichtlich ihr Daumen (der schüttelt die Pflaumen) dazwischen. Lilo gibt das Muttertier und wickelt ihr tröstend ein Papier Küchentuch um den leicht blutenden Finger.
„Nicht den Mut verlieren, Mamma. Das kann dem besten Koch passieren.“
„Hab´ ich aber noch nie gesehen“, lacht Mutter Kabunke. „Jedenfalls nicht in unserem Fernsehen.“
„I-I-Ick soll da hin!“
Amelie stottert nicht, sie hat eine kleine Sprachhemmung. Die ist ihr geblieben nach der väterlichen Fürsorge in der Vergangenheit. Für Lilo und die Mutter überraschend, dass sie sich ungefragt zu Wort meldet.
„Wie da hin? Zum Fernsehen?!“ Was meint sie, die kleine Schwester.
„Zum Fernsehen!“
Amelie wiederholt sich, fast sieht es so aus, als wäre das Angebot ein Grund sich zu schämen.
„Als was, also wieso, wofür denn?“
„Doch nicht als Schauspielerin?“ Mutter Kabunke ist vorsichtig, auch mit der Schnippelei von den Möhren.
„A-a-als Schauspielerin.“
„Ick werd´ verrückt, wieso das denn?“
„Du warst heute inne Kantine Leergut holen, stimmt´s?“ Lilo erinnert sich.
„S-s-stimmt.“
„Ja und dann, wat weiter?“
A-auf dem Gelände hat einer, da hat einer mich enga...giert. Du sollst ihm anrufen, Mamma. Hier ist die Nummer.“
„Ausgerechnet du!“, kann sich Lilo nicht zurückhalten. „Du mit deinem Lispler!“
„Und wann soll det sein? Du hast jeden Tag Schule!“
„Mittwoch, den g-g-anzen Tag und vielleicht ooch Donnerstag.“
„Siehste, kannst du gleich vergessen!“
„Mittwoch ist Feiertag, Mamma!“
„Mittwoch ist übermorgen!“
Immer noch hält Amelie ihrer Mutter den Zettel mit der Telefonnummer hin.
„Die a-a-ndere Zahl ist det Geld. Für jeden T-t-tag krieg ich das!“
Lilo schielt jetzt über die Schulter der Mutter nach dem Papier. Ein wenig ärgert sie sich, dass nicht sie auserwählt ist, bei ihrer prima Figur und den sauberen, nein, den gepflegt bunten Fingernägeln. Aber dann siegt ihr praktischer Sinn über die Eitelkeit.
„Ey, Mamma, sei bloß nicht doof. Wenn Amelie Karriere macht fällt für die janze Familie wat ab.“
„Was sind das für Leute, Kind? Wat is´ n det überhaupt für´ n Film?“
„Doch kein Porno, hä? Bloß so wat nich!“ Obwohl sie grinsen muss macht Lilo sich Sorgen.
„Ein Film mit T-t-tieren und einer Mut-t-ter wie Mamma.“
„Okay, wird schon okay sein“, sagt Lilo, denn heutzutage gibt´s ja mehr Laien als echte Schauspieler im Fernsehen.
„Gib her, ick ruf da mal an und dann sehen wir zu, dass Amelie ihre große Chance nicht verpasst, okay?!“
Sie wirft einen flüchtigen Blick auf den Zettel.
„Handy müsste man haben! Allerhöchste Zeit!“
„Dein K-K-Kevin hat Handy!“ flüstert Amelie und erlaubt sich ein Lächeln.
„Genau, du Spionin! Genau da geh´ ick jetzt hin. Aber vorher noch zur Telefonzelle. Der Kerl muss ja nich alles wissen von uns, okay!?“
„Ein Herr Gerok, musst du v-v-verlangen. Oder Herr Neumacher, egal.“
„Mach ick, mach ich, mein Superstar! Warte.“ Sie kramt in ihrem modischen Rucksack und fördert ein paar übertrieben große Ohrringe zu Tage.
„Für dein Glück ist mir nichts zu viel. Kriegst meine neuen Affenschaukeln für die Aufnahme, okay!“
Sie steckt sie der Schwester an und betrachtet sie skeptisch. Mutter Kabunke schüttelt den Kopf. Irgendwie will Amelies Kindergesicht nicht zu den aufdringlichen Ohrklunkern passen.
„Sieht Scheiße aus!“ Lilo ist ehrlich. „Nee, Mäuschen, mit den Ringen allein kannste kein Blumentopf gewinnen und schon gar nicht den ollen ´Bambi`. Ein funky Fetzen muss her. Galaktisch, da darf nicht gespart werden, Mamma!“
„Und woher soll ick det Geld nehmen, bitte? Kann sie nicht wat von dir anziehen?“
„Ja, geht´s noch! Sie hat nich mal Titten, sorry Kleine, noch keinen Busen. Wow, det muss schrill aussehen, wie Lady Gaga oder die blonde Tussi vom Hilton. Echt stylen müssen wir dich! Mega in muss sie aussehen! Vielleicht ´n geilen Stoff kaufen und du nähst ihr wat, Mamma?! Ich geb´ Knete dazu!“
„Ein Kleid bis Mittwoch! Sonst noch was? Das sind ein Tag und zwei Nächte!“
„Mamma, biiiiiitte! Du schaffst das. Ick übernehm´ die Kocherei, Mamma!“ Lilo ist fasziniert von der gewaltigen Aufgabe, die da anscheinend auf die Familie zukommt.
„Und Staub wischen und die Küche hinterher wieder blitzeblank, ooookayyy!“ sagt Mutter Kabunke und zieht das amerikanische Wort lang wie einen Bubble-Gum Kaugummi.
Draußen ist jetzt die dünne Hupe eines Leichtmotorrads zu hören. Lilo reißt das Fenster auf und schreit durch die Gitterstäbe.
„Oky-Doky! Bin gleich soweit, Kevin!“ Und zu Amelie und der Mutter sagt sie.
„Siehste ey, schon wieder wat eingespart. Ganzes Abendessen!“ Und knallt das Fenster wieder zu um noch schnell ein Timing zu entwickeln.
„Also, morgen früh punkt neun, wenn´s Kaufhaus aufmacht, besorg ich mit Amelie den Stoff. Kevin schafft ihn umgehend hierher mit seiner Maschine. Ick mach´ meinen Job, Amelie Schule, und Mamma näht wie verrückt bis die Finger bluten. In der Mittagspause, wenn unser Kind Schule aus hat, besorgen wir beide noch´ n paar Asses ...“
„Accessoires“ korrigiert Mutter Kabunke.
„Meinetwegen, also allet wat sonne Glamour Tussi halt brauch. Wat die verkackten Hungerhaken so tragen.“
Von draußen ist wieder die dünne Hupe zu hören. Lilo rafft ihre Sachen zusammen, gibt Amelie und ihrer Mutter den obligatorischen Abschiedskuss.
„Und nach dem Essen gleich inne Kiste. Mamma, guck drauf, dass sie nicht wieder ewig lang liest. Det macht Falten. Ist nich jut für ´n Fernsehstar!“
Und schon knallt sie die Wohnungstür zu.
Zeit vergeht, leise wird eine andere Tür geöffnet. Mutter Kabunke steckt den Kopf herein und sieht nach Amelie.
Die liegt in ihrem Bett und schläft tief. Aber sie scheint zu träumen, sieht das freundlich eindringliche Gesicht des Drehbuchautors Neumacher vor sich, der ihr zuflüstert.
„Ich wollte dich fragen ob du sie spielen willst, die Rolle? Meine Klara auf dem Bauernhof. Sag einfach ja. Bitte. Wir brauchen dich, Amelie. Sag ja, sag ja.“
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