Dabei ist dieses Konzept der Liebe, das vergessen einige, relativ neu. In vielen Epochen der Menschheitsgeschichte, und noch vor wenigen hundert Jahren, war die Heirat keine Frage des Herzens, und es ging nicht um Liebe, die Ehe war vielmehr eine Angelegenheit für den Geldbeutel, für die Absicherung, den Stand und die organisatorische Verbindung zweier Familien. Die Ehe, die Treue, die Liebe und der Sex waren in der Menschheitsgeschichte nicht immer in einer Schublade. Die Werthers dieser Welt haben nicht immer schon gelitten: Nicht zu selten kannten sich zwei Ehepartner bis zum Tag der Hochzeit nicht. Von einem ordentlichen Schreiner, Maurer, Bäcker oder Bauern erwartete man, verheiratet zu sein, und zwar möglichst mit der Tochter eines anderen ordentlichen Schreiner, Maurer, Bäcker oder Bauern, also aus dem eigenen Stand; nach Möglichkeit eine, die eine Werkstatt, Werkzeuge, Land oder andere Güter mitbrachte, die man gebrauchen konnte[150]. Man suchte und fand nicht nur einen Partner aus dem eigenen Stand, die Ständeordnung verbot es sogar, etwas Anderes zu wollen. Wobei die Menschen zu allen Zeiten dennoch Sex hatten, der nicht standesgemäß war – man durfte nur nicht heiraten, darauf achtete die Kirche. Als uneheliches Kind des Pfarrers oder Bischofs in die Welt geboren zu sein, bedeutete häufig genug nicht nur, in einer fremden Familie aufzuwachsen, sondern auch, auf dem Heiratsmarkt nicht vermittelbar zu sein – ob man jemanden liebte oder nicht. Auch wenn zwei Königshäuser einen Krieg beenden wollten, der ihnen zu teuer wurde, verheirateten sie kurzerhand den Prinzen aus dem einen Haus mit der Prinzessin aus dem anderen. Und wenn die Prinzessin noch vor der Heirat an Typhus starb, dann heiratete der Prinz halt deren Schwester, da kam es dann nicht so drauf an. Was eine Ehe ist und sein soll, das schwankte im Laufe der Menschheitsgeschichte sehr, und auch das Bild, das man von der Sexualität hatte, war niemals einheitlich. Galt das Weib über Jahrhunderte als das unreine, ausschweifende, unzüchtige, willensschwache und allzu leicht von Dämonen besessene Wesen, das den armen Mann verführt und ins Unheil stürzt, so war das Bild der Frau vor 200 Jahren plötzlich das der züchtigen, asexuellen, keuschen Jungfer, die sich nicht für Sexualität interessiert und deren Gedanken niemals lüstern sind, während dem Mann zugestanden wurde, stetig brünstig zu sein. Mätressen im absolutistischen Frankreich hatten großen politischen Einfluss[151], und es war wichtig, dass sie sich mit der Ehefrau des Königs, der Königin, gut verstanden. Im antiken Griechenland hielten verheiratete Männer sich Lustknaben. Die Geschichte der Menschheit – hier dargestellt durch eine blaue Ersatzflüssigkeit – war stets auch die Geschichte des Auslebens der Lust und ihrer Rituale.
Und heute sind die Vorschriften, wie die Vorschriften sind. Du sollst keusch sein , sonst brennst du ewig in der Hölle. Dabei wäre es für einen allmächtigen Schöpfer doch so einfach gewesen, das ganze Dilemma zu verhindern – wenn es ihm denn so wichtig ist. Zum Beispiel durch Prägung.
Nicht nur manche Vögel kennen dieses Konzept. Kurz nach dem Schlüpfen aus dem Ei sehen und erkennen sie ihre Mutter – und folgen ihr danach auf ewig.
Das Konzept der Prägung[152] war dem Schöpfer also nicht unbekannt – was bei einem allwissenden Schöpfer auch nicht verwunderlich ist. Umso erstaunlicher ist seine Entscheidung, die vorhandene Technik nicht auch da einzusetzen, wo es ihm wichtig ist: Bei den Menschen und deren Sexualität. Weniger gebildete Kreationisten mögen an dieser Stelle von Willensfreiheit reden, aber ich gebe zu bedenken, dass der menschliche Geist voll ist von Reflexen, angeborenen Verhaltensweisen und Instinkten[153]. Wer beim Menschen von der Willensfreiheit redet, der möge gerne einmal probieren, drei Tage am Stück nichts zu essen – und sich dann auf etwas Anderes zu konzentrieren, als die Frage, wie man seinen Hunger stillen kann. Oder seine Hand ein paar Minuten auf eine heiße Herdplatte zu halten, nur weil er es will. Triebe und Instinkte bestimmen den menschlichen Geist mehr, als die Willensfreiheit gerne wollen würde. Warum ausgerechnet in der Sexualität – die zudem ebenfalls sowieso in mannigfaltiger Weise von Instinkten dominiert ist – ausgerechnet auf das einfache Konzept der Partner-Prägung verzichtet werden soll, ist unklar – man muss nur einen Verhaltensforscher fragen, um zu erfahren, wie sehr auch der menschliche Geist ansonsten durch Prägungen dominiert wird[154].
Wie einfach wäre es gewesen, den Menschen diesbezüglich mit einer Prägephase auszustatten: Der Partner, mit dem man zum ersten Mal schläft, ist jener, auf den man den Rest seines Lebens scharf ist. Nichts einfacher als das. Und auch nicht schwer umzusetzen: Ein schickes Hormon, dessen Ausschüttung die erste Prägung im richtigen Moment einleitet – fertig. Schließlich ist man ja allmächtig und hat viel kompliziertere Dinge geschaffen. Da wird dem Gott doch vor einem kleinen zusätzlichen Hormon nicht bange sein…
Manch einem wird vielleicht bei der Erinnerung an seine allererste Freundin oder den allerersten Freund bei diesem Gedanken ein eher ungutes Gefühl beschleichen. Aber die Gesellschaften der Menschen würden sich, um diese Prägung wissend, weil es schon immer so war, ganz anders verhalten. Der erste Akt wäre wirklich ein Akt der Liebe, der Entscheidung, und weder Mann noch Frau hätte je wieder Lust auf jemand anderen. In der Werbung würden schlagartig alle Brüste verschwinden, alle Nachmittagstalkshows mit Treuetests würden abgeschaltet werden, der Playboy wäre ein Literaturmagazin und xhamster pleite: Wer einmal Sex hatte, der ist geprägt, und möchte in seinem Leben nie wieder an Sex mit einem Anderen denken.
Gott aber entscheidet sich für eine andere Lösung. Er stattet den Menschen mit dem stärksten Trieb[155] neben dem Hunger aus, wartet, und veröffentlicht dann seine Meinung dazu in einem Buch. Noch dazu in einem Buch, von dessen Sorte es auf der Welt viele gibt – einer heiligen Schrift, und die hat leider so ziemlich jede Religion, auch die falschen. Er erwartet also, dass die Menschen sich von selbst für die richtige Religion entscheiden, dort lesen, und dann ihren dort als sündig beschriebenen Trieb soweit unterdrücken, wie er es dort fordert. Ansonsten droht er mit ewiger Qual. Gleichzeitig aber ist der Trieb so stark, dass es quasi keinen Menschen gibt, der ihn tatsächlich unterdrücken kann: Nicht umsonst ist einer der größten Missbrauchsskandale unserer Zeit ausgerechnet dort aufgetreten, wo die striktesten Auslegungen gelten. Wer gerne mit Suchmaschinen recherchiert, kann sich einmal den Spaß erlauben und sich Karten zeigen lassen, in denen die Dichte und Strenge religiöser Einstellungen in der Bevölkerung aufgezeigt sind – in Deutschland in der Gegend von Bayern, in Europa Gegenden von Spanien, Italien und Irland, weltweit der sogenannte Bible-Belt in den USA und ungenauere, weil inoffizielle Statistiken aus Iran, Syrien und Indonesien, und dann mit den einschlägigen Abrufstatistiken der Pornoseiten vergleichen, und staunen. Oder auch nicht staunen: Auf Fetisch-Partys ist man vor nicht-einvernehmlichen sexuellen Übergriffen recht sicher[156]. In kirchlichen Einrichtungen hingegen gab es bereits viele, inzwischen gut dokumentierte, reale Vergewaltigungen.
Das ist, neben der unerquicklichen Aussicht auf die ewige Qual in der Hölle, ein weiterer Aspekt in Gottes Sexualschöpfung: Das Leid, das er damit verursacht. Überall auf der Welt mühen und arbeiten Gläubige daran, die irrsinnigen Vorgaben ihrer heiligen Bücher einzuhalten – und scheitern. Eine Qual ist es dennoch[157], wenn man öffentlich immer und stetig sich als sittsam präsentieren muss, als gottesfürchtig und moralisch, im Innersten aber seine eigene Lust und seine Bedürfnisse spürt. Oder sie sogar auslebt – heimlich, ohne dass die Gemeinde es wissen darf. Zu welch einer Qual hat Gott seine Schäfchen verdammt[158], obgleich es einfachere Wege gegeben hätte.
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