Im Februar 1992 kam mir der Gedanke, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“: Seemannsschicksale.

Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften als Reaktionen zu meinem Buch.
Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage nach dem Buch ermutigten mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Inzwischen erhielt ich unzählige positive Kommentare und Rezensionen, etwa: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg auch als schon veröffentlich hat. Alle Achtung!
In diesem Band 76 können Sie wieder den Bericht über einen ehemaligen Seemann lesen, der von seinem Sohn zu dessen 100. Geburtstag aufbereitet wurde. Weltweite Seefahrt vor dem 2. Weltkrieg – und während des schrecklichen Krieges – und das Überleben und neue Leben nach dem Krieg werden hier in einer einmaligen historischen Dokumentation von einem Fachmann (Geschichtslehrer) präsentiert.
Hamburg, Juli 2014 Jürgen Ruszkowski

Widmung
Meinem Vater
RUDI

gewidmet zum 100. Geburtstag am 17.04.2014

Prolog
Rudis Sohn geht in Pension. Da räumt er erst mal richtig durch und auf. Das hat er sich seit Jahren vorgenommen. Eines Tages ist auch der Schrank dran, in dem die Papiere, Fotos und Briefe seiner Eltern liegen. Kunterbuntes Durcheinander. Vergilbte Briefe und blasse Schwarz-Weiß-Fotos. Bekanntes und Unbekanntes. Alles, was damals, vor fast 25 Jahren, bei der Haushaltsauflösung so übrig geblieben ist –bewahrenswert erschien.
Eine Wunderwelt tut sich auf, von Schiffen und Weltmeeren: von den Kreuzfahrten der ‚GENERAL VON STEUBEN‘ durchs Mittelmeer, dem Geheimtransport in den Spanischen Bürgerkrieg auf der ‚BERLIN‘, über die Trampschifffahrt auf der ‚ERLANGEN‘ zwischen Australien und der Ostküste der USA bis hin zum Transatlantik-Dienst auf der ‚BREMEN‘ und der ‚EUROPA‘.
Nach dem Studium an der Ingenieur-Schule in Bremen will Rudi ordentlich Geld verdienen. Aber der 2. Weltkrieg bricht aus. Die ‚BREMEN‘ geht in Flammen auf, und der Dampfer ‚HANS SCHMIDT‘ muss im Mittelmeer als kärglicher Ersatz dienen. Rudi wird ‚Blockadebrecher‘ auf dem legendären Katapultschiff ‚SCHWABENLAND‘, später dann in Griechenland zum Nachschub der deutsch besetzten Inseln eingesetzt. Auf insgesamt sechs Schiffen fährt er durch die Ägäis, die allesamt versenkt werden. Das Lazarettschiff ‚GRADISCA‘, auf dem Rudi krank in die Heimat transportiert werden soll, wird Ende 1944 von der Britischen Navy gekapert, und er landet für die nächsten zweieinhalb Jahre in einem Gefangenenlager in der Suezkanal-Zone in Ägypten.
Aber auch die Briten können den Marine-Ingenieur brauchen: jetzt als ‚Chief‘ auf einem winzigen Fährprahm zur Munitionsversenkung vor Alexandria eingesetzt. Auf dem Truppentransporter ‚TUSCULUM VICTORY‘ geht es 1947 nach Deutschland zurück. Noch vor der Währungsreform wird er Schicht-Ingenieur auf einem Braunkohle-Kraftwerk. Gigantische Dampfer inmitten des Rheinischen Reviers. ‚FORTUNA‘ heißt das Dampfturbinen-Elektrizitätswerk. Nomen est omen. Ein Name, der das hielt, was er versprach.

1936
20. Januar: Der britische König Georg V. (1910-1936) stirbt. Sein Sohn Eduard/Edward VIII. wird sein Nachfolger.
Februar: Olympische Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen.
7. März: Einmarsch der Wehrmacht in das bis dahin entmilitarisierte Rheinland, auch in Köln.
Mai: Ende des Abessinien-Krieges. Annexion Äthiopiens durch das faschistische Italien. Der italienische König wird zum Kaiser von Äthiopien proklamiert.
Juli: Beginn des Spanischen Bürgerkrieges. Militärputsch General Francos.
August: Olympische Sommerspiele 1. bis 16. August in Berlin.
November: Die ‚Legion Condor‘ wird für den Einsatz in Spanien aufgestellt.
Dezember: Eduard VIII., der als prodeutsch gilt, ist gezwungen abzudanken (Wallis Simpson).

‚Geheult wie ein Schlosshund‘ – der Trennungsschock (1936)
Er habe geheult wie ein Schlosshund, erzählt 25 Jahre später Vater Rudi dem 10jährigen Heribert, dem Erstgeborenen. Der hat gerade eine ‚Fünf‘ in Englisch verbockt, und der Sextaner braucht Trost und Zuspruch. Mutterseelenallein, fern der Heimat, sei ihm eine enge, kalte Kammer zugewiesen worden auf dem großen Schiff. Genau um 14:43 Uhr hatte er den D-Zug auf dem Kölner Hauptbahnhof bestiegen. Eltern und sein fünf Jahre jüngerer Bruder begleiten ihn bis auf den Bahnsteig, winken dem Zug nach Bremerhaven hinterher. Auch jetzt schon ein tränenreicher Abschied. Diese genaue Uhrzeit trägt Rudi in den kleinen grünen Taschenkalender ein, den er jetzt, da er sein Elternhaus verlassen, sich zu führen vorgenommen hat. Es ist ein Sonntagnachmittag – der 5. Januar 1936. Unmittelbar hinter der Hohenzollernbrücke, die den Rhein in Höhe des Doms überquert, überfällt ihn schon die erste Welle von Heimweh.
In den letzten Wochen war er noch voller Zuversicht gewesen, hatte wie jeden Morgen ab 7 Uhr Fisch ausgefahren, Bekannte besucht und war auch – na ja – am letzten Freitag um 8.30 Uhr zum Sturmappell bei der SA angetreten. Das soll jetzt alles vorbei sein? Ein lachendes und ein weinendes Auge. Die Fahrerei, das Chauffieren, das Asten im Lager, das muss jetzt ein Ende haben. Das bietet ihm überhaupt keine Perspektive! Zwei Jahre schon, und immer noch nicht weiter. Er fühlt, wie die Zeit verrinnt. Das mag ja Ende 1933, als die Arbeitslosigkeit noch hoch und die Stellen rar waren, in Ordnung gewesen sein. Ein Unterschlupf bei der ‚Transitus‘-Speditionsgesellschaft als Automechaniker und Fahrer. Eine Sackgasse, nagt es an ihm.
Dabei hat er doch die ‚Mittlere Reife‘ am Realgymnasium in der Kreuzgasse erlangt. Dass es nicht das Abitur war, das wurmt ihn noch immer. Halt die Zeiten! 1930 hatte die Wirtschaftskrise mit voller Wucht das Land erfasst. Gut, dass er bei der ‚Berlin –Anhaltischen Maschinenbau AG‘, Niederlassung Köln, eine Schlosserlehre antreten darf. Die väterlichen Beziehungen halfen. Aber auch das bitter genug. Wochenlang Klötzchen feilen neben zwei Jahre jüngeren Volksschülern. Eine raue Fortsetzung der Schulzeit. Sozusagen Rudis gymnasiale Oberstufe, nur diesmal im Blaumann. Ohne Schülermütze des altehrwürdigen Traditionsgymnasiums.
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