Ich stand oder ging wie in einer Art Halbschlaf, denn das, was sich da in meinem Kopf abspielte, war schlimmer als ein Alptraum, es war Frondienst an Nichtigkeit, selbst den ganzen Tag eine Eieruhr umdrehen wäre im Vergleich noch anspruchsvoller und sinnvoller gewesen, meine Gedanken kreisten nicht um ein Thema, sie fuhren immer wieder und wieder irgendwelche Kanten und Rillen entlang, um in den bangen Momenten, in denen sie plötzlich auf sich selbst gestellt waren vor der eigenen Leere und Sinnlosigkeit mit Schrecken davonzustieben, denn das war die zweite Seite der Medaille, sobald ich einmal für einen kleinen Moment von der Ablenkung abließ, sobald ich nur einmal ansatzweise meinen Gedanken zuhörte, vernahm ich Gedankenfetzen wie „Wozu das alles?“, „Hat doch alles keinen Sinn …“ und „Was mache ich hier?“, nichts interessierte mich, ich konnte mich für nichts begeistern, Sport ließ mich genauso kalt wie Alkohol, die Zigaretten schmeckten mir schon lange nicht mehr, selten konnte ich mich länger als fünf Minuten auf etwas konzentrieren, meistens nicht einmal das, bei Gesprächen mit anderen glänzte ich durch innere Abwesenheit, die Hausaufgaben waren der sprichwörtliche Berg, den ich den ganzen Tag vor mir herschob, bis es zu spät war, ich nahm mir vor, am nächsten Morgen früh aufzustehen, aber das war natürlich völlig unmöglich, ich war froh, wenn ich es noch rechtzeitig in die erste Stunde schaffte, „Otto,“ rief eine dürre Stimme durch den Flur, „Mein Tee,“ ich schüttete das Wasser in die Tasse mit dem Teebeutel und brachte die Tasse zu ihr, „Danke,“ sagte sie matt und „Stell die Tasse bitte auf den Nachttisch,“ ich ging wieder hinaus ohne sie anzusehen.
7 Leere
Ich saß in meinem Zimmer und sah ins Leere, etwas, das ich besser konnte als jeder andere, sie nannte es „Gammeln“ wenn sie mich dabei erwischte, „Bist du wieder am Gammeln?“ würde sie fragen, wenn sie ohne Anzuklopfen ins Zimmer kam und sah, wie ich auf der Couch vor mich hinstierte, sie setzte ein süßliches Lächeln auf, als ob sie amüsiert wäre oder haushoch über solchen Trivialitäten stünde, es war nicht nur verlogen, es war auch völlig unpassend, ich hätte sie gerne geschlagen, aber das ging nicht, es wäre ihre Absolution gewesen, ihre finale Selbstbestätigung, sie hätte sich nicht gewehrt, diesen Triumph vergönnte ich ihr nicht, aber der Hass war da. Manchmal schlug ich sie vor meinem inneren Auge, aber immer richtete sie sich unbeschadet zu voller Größe auf, setzte ein Gesicht auf, das die Bereitschaft ausdrückte, alles Leid dieser Welt und insbesondere das eigene auf sich zu nehmen und dann ging sie hoch erhobenen Hauptes weg, während ich zurückblieb, ein Verworfener, ein Peiniger, ein Schuldiger, ich fühlte, wie es mir den Atem zuschnürte, Schuld, das war die Währung, in der sie bezahlte, das war das, was zurückblieb, wenn sie das Zimmer verließ, ihre Kreativität kannte keine Grenzen, um das, was ich tat oder nicht tat so zu interpretieren, dass ein Urteil gefällt werden mußte, es war immer das gleiche Urteil, schuldig, aber sie war nicht dumm, sie würde das Urteil nicht aussprechen, denn das würde ja einen Einspruch ermöglichen, sie würde mich das Urteil kosten lassen, durch das sich in ihrer Miene spiegelnde Leid, durch Seufzen, durch indirektes Adressieren, durch rhetorische Fragen oder auch nur, indem sie reglos auf ihrem Bett lag, eine Verzweifelte, Unverstandene, eine, die blass zu denken wagte, während wir sonnengebräunten Jubelfritzen immer noch dem Leben etwas abgewinnen konnten, aber auch das würde sie mir austreiben.
Mein Blick schweifte zu dem Beistelltisch, den ich auf dem Sperrmüll gefunden hatte, aus Eschenholz, mit einer Schublade, in der ich meinen Tabak und Streichhölzer aufbewahrte, es war ein schöner Tisch, er gab meinem Zimmer etwas Individuelles, ich war sehr stolz auf diesen Tisch, ich hatte ihn vor einigen Tagen gefunden, als ich vom OhrSturm nach Hause ging und aus der Macht der Gewohnheit heraus die Bahngleise überquerte und über den Treppenweg in die Maxburgstraße ging. Es war ein frischer Oktoberabend und ich hatte während des Treppensteigens eine Rede gehalten, voller Lebensweisheit und tiefer Einsicht, es ging um die Wahrheit, die wir nur in uns finden können, ich war selbst erstaunt, was ich in solchen Momenten zu erträumen imstande war, das Publikum lauschte und schließlich der befreiende Applaus, Menschen strömten ans Podium, um mir die Hand zu schütteln, ich war trunken vor Glück, mehrmals täglich fixte ich mir auf diese Weise ein High, von dem andere Junkies nur träumen konnten, nur dass ich es nicht zu bezahlen brauchte, wenn man davon absieht, dass ich Hand in Hand mit den Tagträumen, in denen ich bis an die Grenzen menschlicher Potentialausschöpfung gelangte, mein Leben ganz konkret an die Wand fuhr, und so war es auch an jenem späten Abend, als ich vom OhrSturm nach Hause ging und aus der Macht der Gewohnheit heraus die Bahngleise überquerte. Ich hielt im Geiste eine Rede, wie wunderbar, noch heute begreife ich nicht, was mich so sehr daran faszinierte, Reden zu schwingen, bis dann mein Blick auf irgendetwas fiel, das mich zurück in die Realität warf, vielleicht war es ein Hundehaufen oder ein vor Monaten abgestelltes und inzwischen schon halb verrostetes Fahrrad, vielleicht auch der Obdachlose, der in einem Schlafsack am Wegesrand lag, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls erinnerte ich mich wieder, dass ich gerade mit vier Bier intus eine Treppe hochlief, meine Zigarette bereits an den Fingerspitzen wehtat, wenn ich daran zog, und dass ich bescheuerterweise in die völlig falsche Richtung gelaufen war, deine Eltern haben sich getrennt, wir erinnern uns, ja? Das Haus ist passé, du wohnst jetzt in der Stadt, Trottel, wohl total verblödet oder was, Erde an Wolkenkuckucksheim, HalloHallo, und im Bruchteil einer Sekunde knallte ich von dem erhabenen Gefühl, das mir mein Tagtraum beschert hatte, zurück in eine kalte, widrige und ekelhafte Wirklichkeit, ich beschimpfte mich, das gehörte dazu, ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich vor mich hinträumte, ich verachtete mich, weil ich zu dämlich war, nach Hause zu finden, ich schlug mir auf den rechten Oberschenkel und sah mich wieder im OhrSturm , wo ich mit den anderen am Tisch sitzend über irgendeine Bemerkung lachen mußte, mal abgesehen davon, dass ich der einzige war, der meinte, er müßte diese Bemerkung, ich glaube sie war von Socke, mit einem lauten Lachen quittieren, nein, ich hatte praktischerweise auch ignoriert, dass ich noch Bier im Mund hatte, Impulskontrolle war meine Stärke nicht, ich prustete das Bier lachend auf den Tisch, und dann diese plötzliche Stille, alle blickten schockiert auf mich. Natürlich war das eine absolute Verfehlung, ich schämte mich und ärgerte mich, dass ich einfach nichts vertrug, nach vier Bier ist doch kein Mensch besoffen, nur ich, nicht mal zum Alkoholiker würde ich es bringen, aber das wusste ich damals noch nicht, ich sah die Szene wieder vor meinen Augen und schlug mir vor Ärger und Wut wieder auf den Oberschenkel, die Szene spielte sich wieder vor meinen Augen ab, Scham und Wut erfüllten mich wieder, ein harter Schlag auf meinen Oberschenkel, noch bevor ich dreimal Luft holen konnte hatte ich mir bereits zehnmal aufs Bein gehauen, es brannte und tat richtig weh, ich ging humpelnd weiter, warum nicht schauen, ob schon jemand in unserem Haus wohnte, an der Ecke zur Waldstraße lagen Matratzen, alte Stühle und anderer Krimskrams, ich wäre eigentlich achtlos daran vorbeigelaufen, wenn mein Blick nicht auf den Beistelltisch gefallen wäre, ich blieb stehen und sah den Tisch an, ich ging darauf zu, klopfte auf die Platte, machte die Schublade auf, sie ließ sich leicht öffnen, sie war leer, ich schob sie wieder zu, ich untersuchte die Beine, eins war wackelig, aber der Tisch stand wie eine Eins, ich hob ihn versuchsweise hoch, er ließ sich tragen, ich fackelte nicht lange und begann, ihn nach Hause zu tragen, ich brauchte zwei Stunden, wie gut, dass ich das nicht vorher wußte, alle paar Meter mußte ich den Tisch absetzen und eine Pause machen, er wurde schwerer und schwerer, ich wunderte mich, wie das aussah, wenn einer mitten in der Nacht einen Tisch trägt, es war mir egal, irgendwann war ich in der Wohnung, die ich seit einigen Wochen mit meiner Mutter teilte, sie wartete bereits.
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