Drei Nächte gingen vorbei wie im Flug. Bald erinnerte sie Hamons Fluchen, dass sie wieder im Sattel saßen. Die Biberjäger hatten ihnen wie versprochen einige kampferprobte Männer als Geleitschutz mitgegeben. Nach zwei Tagen erreichten sie die letzte Raststation auf kethischem Boden. Es war eine schmuddelige Kneipe am Wegesrand, wo sich allerlei lichtscheues Gesindel herumtrieb.
Sie entschieden sich für das trockene Nachtquartier, da es leicht zu nieseln angefangen hatte. Mauro wandte alle seine Zauberkünste auf, um das Essen verträglich zu machen. Jago versuchte inzwischen, von den feuerländischen Schmugglern Informationen zu erhalten, doch die Kerle zeigten sich wenig gesprächsbereit.
In einer ruhigen Minute nahm Mauro Morriell zur Seite. „Wenn Ihr Llewin wirklich liebt, wie Ihr es in den letzten Tagen geschworen habt, so schickt ihn mit den Biberjägern zurück. Ein Nichtzauberer ist uns keine große Hilfe. Seine Anwesenheit könnte König Curon zu einer Strafexpedition gegen die Seekethen animieren. Es liegt in Eurer Hand, das zu vermeiden. Er kann daheim in Sexten auf Euch warten und die gemeinsame Heimstatt vorbereiten.“
Morriell sah Mauro feindselig an: „Erst habt Ihr mir Schlobart genommen. Nun versucht Ihr mir Llewin abspenstig zu machen. Ihr wollt mich in völliger Abhängigkeit halten – von Euch und den merkwürdigen Gestalten, die Ihr Freunde nennt.“ Morriell konnte weder Shigat noch Hamon ausstehen. „Das kommt nicht in Frage. Llewin geht mit uns bis Knyssar, weil ich ihn brauche!“
Mauro zuckte resigniert die Schultern und ließ den Gedanken fallen.
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Ein paar Schmuggler schlossen sich ihnen an. Fremde waren in dieser Wildnis eine unkalkulierbare Gefahr. Da man den gleichen Weg hatte, konnte Mauro die anderen nicht abweisen. Kurz nach Sonnenaufgang überquerten sie den Pass. Sie legten eine kleine Rast ein. In einiger Entfernung hörten sie merkwürdige Geräusche – ein dumpfes Stampfen und Schnaufen. Die Schmuggler wurden unruhig. Ehe sie es sich versahen, waren ihre Reisebegleiter verschwunden. Das ließ Übles befürchten.
Die Gefährten versuchten, den Grund für die merkwürdigen Geräusche herauszufinden. Weit sehen konnten sie nicht. Unterhalb des Pass-Sattels lag ein ungewöhnlich düsterer Wald. Er schien zu atmen, als ob er ein Eigenleben besäße. Kein Vogel kreiste über seinen Wipfeln oder zwitscherte in seinem Geäst. Nicht einmal Insekten summten in seiner Nähe.
„Wart ihr schon einmal dort unten?“ fragte Mauro die Biberjäger.
Der Anführer schüttelte sich: „Dafür gab es keine Notwendigkeit.“
„Der Wald ist unheimlich. Keiner von uns ginge freiwillig hinein“, fügte ein zweiter hinzu.
„Vielleicht schützen sie die Grenze mit einem bösen Zauber. Furukiya ist schließlich das Land des Zauberkönigs“, bemerkte ein Dritter.
Jago hielt die Behauptung für Unfug: „Weder ich noch die Schmuggler hätten in diesem Fall die Grenze passieren können.“
„Seid Ihr durch diesen Wald gekommen?“ wollte Mauro wissen.
Jago verneinte: „Nicht hier, sondern drei Tagesritte weiter südlich. Ich reiste über Sexten, wo ich König Iolair um Unterstützung bat.“
„Etwas stimmt mit diesem Wald nicht. Was meint Ihr, Prinz Shigat?“
Shigat strich über sein Kinn: „Ein Grenzschutzzauber? Wenn es so etwas gäbe, hätten wir es in Yian Mah längst eingeführt. Doch ich gestehe, dass mir dieser Wald merkwürdig vorkommt. Knyssar ist ein uraltes Heiligtum, es existierte schon vor unserer Zeitrechnung. Ich möchte nicht ausschließen, dass sie besondere Schutzmechanismen besitzen.“
„Eine Art von Bannwald? Wir sollten ihn uns näher ansehen“, schlug Mauro vor. „Prinz Shigat, kommt Ihr mit Euren Zauberern mit? Alle anderen bleiben hier. Haltet Euch vom Wald fern und seid wachsam. Irgendetwas liegt in der Luft.“
Schritt um Schritt nach allen Seiten absichernd drangen sie in den Wald ein. Hoch wölbte sich das Blätterdach über ihren Köpfen. Kein bisschen Tageslicht drang bis zum Boden durch. Knorrige alte Bäume durchpflügten den Waldboden mit ihren kräftigen Wurzeln. Dichtes Moos dämpfte ihre Schritte und Flechten hingen gespenstisch von den Ästen.
Einer von Shigats Männern hatte eine wichtige Eingebung: „Wir sollten eine magische Leine auslegen. Wenn wir die Orientierung verlieren, finden wir nicht mehr hinaus!“
Sie markierten ihren Weg, während sie weiter in die Düsternis des alten Waldes vordrangen. Nach einer Weile blieb Shigat stehen: „Ich weiß nicht recht. Der Wald ist zwar unheimlich, doch alte Bäume haben oft eine bedrohliche Aura. Daran kann ich nichts Außergewöhnliches finden. Wonach suchen wir eigentlich?“
Mauro überlegte. Dann kam ihm ein Gedanke: „Es ist nicht der Wald selbst. Es ist etwas, das in ihm wohnt. Erinnert Ihr Euch an das Stampfen, dass wir vorher gehört haben? Jetzt höre ich es direkt hinter uns!“
„In dieser Richtung haben wir die Gefährten zurückgelassen. Rasch, lasst uns umkehren!“
In Windeseile folgten sie ihrer magischen Leine zurück. Sobald sie den Waldrand erreichten, sahen sie, was das Stampfen verursachte. Eine Horde Bergtrolle hatte die Gefährten angegriffen.
Die Trolle waren erheblich größer und kräftiger als ein Mensch. Die Gefährten wehrten sich verbissen gegen die Übermacht, doch ihre Pfeile blieben in der dicken Haut der Trolle stecken und reizten ihre Wut. Es gab nur wenige Stellen an ihrem Körper, wo ein Schwert die dichte Fettschicht durchdringen und den Troll tödlich verwunden konnte. Um dorthin zu gelangen, musste man ihn erst durch Zauberei außer Gefecht setzen. Das war nicht ganz einfach, zumal die Angreifergruppe ziemlich groß war.
Shigat und seine Männer zogen ihre Zauberschwerter und warfen sich sofort in den Kampf. Mauro griff nach seiner blanken Metallscheibe und suchte nach einem Ziel. Sowohl Jago als auch Llewin waren in arger Bedrängnis.
Eines der Ungetüme holte gerade mit seiner gewaltigen Holzkeule aus, um den am Boden liegenden Jago zu zerschmettern. Mauro zielte auf eine energetische Lücke im Hautpanzer des Trolls. Die Wurfscheibe drang direkt in dessen Herz. Ein Zucken ging durch den riesigen Körper, und die Keule schlug ins Leere. Jago schaffte es gerade noch, darunter wegzurollen, ehe der Koloss in sich zusammenbrach.
Mauro wandte seine Aufmerksamkeit sofort Llewin zu. Ein Troll hatte den jungen Mann ergriffen und hob ihn hoch, als wäre er ein Spielzeug. Llewin versuchte verzweifelt, sich aus dem derben Griff herauszuwinden, doch er konnte nur hilflos mit den Armen und Beinen zappeln. Mauro sprang auf einen Felsen und schickte in Windeseile einen Immobilisierungs-Zauber gegen den Troll. Da er sich in seiner Hast ungenügend geerdet hatte, fehlte es dem Fluch an Kraft. Der Troll wankte ein wenig, doch er wurde nicht bewegungsunfähig.
Nun war das Untier auf Mauro aufmerksam geworden. Erstaunt sah es den Angreifer aus blutunterlaufenen Augen an. Mit einem wütenden Grunzen hob es Llewins Körper noch höher über seinen Kopf und schickte sich an, ihn gegen Mauro zu schleudern. Mauro umklammerte sein Schwert mit beiden Händen und warf sich mit voller Wucht dem Troll in die Seite. Die Spitze drang durch die Leiste tief in die Eingeweide.
Mauro war zu langsam. Noch während das Fledermausschwert in seinen Körper eindrang, schleuderte der Troll Llewins Körper mit gewaltiger Wucht gegen den Felsblock, auf dem Mauro gerade noch gestanden hatte. Erst danach bemerkte er seine Wunde. Der Troll brüllte zornig und fasste nach Mauro. Mit seinen Klauen zog er eine Kratzspur über dessen Wange, ehe er nach der Seite einbrach und verendete.
Mauro wischte mit dem Ärmel das Blut ab und warf einen Blick auf Llewin, der mit verrenkten Gliedmaßen an dem Felsen hing. Die Augen des jungen Mannes waren weit geöffnet und starrten blicklos in den Himmel. Mauros verzweifelter Angriff konnte ihn nicht mehr retten. Llewin war tot.
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