„Macht Euch darum keine Sorgen“, meinte der Elfe begütigend. „Das ist nichts weiter als verdichtete Energie. Sie zerfällt und kann wiedergewonnen werden. An solchen Dingen müsst Ihr nicht festhalten. Werft sie einfach in die Höhe, wenn Ihr unten seid.“
Rüdiger war zufrieden und begab sich in Startposition. Zum letzten Mal rekapitulierte er die Anweisungen. Dann schloss er die Augen und sprang ab. Nachdem er sich in seiner ungewohnten Position unter dem bauschigen Schirm zurechtgefunden hatte, riskierte er einen Blick auf die Schönheit der vorbeiziehenden Landschaft. So schlecht war es gar nicht, das Fliegen. Rüdiger beschloss, die ungewöhnliche Transportart zu genießen.
Mittlerweile waren allerdings die Adler auf die Bewegung aufmerksam geworden. Hungrig vom langen Winter sahen sie nach, ob etwas Essbares herumflog. Ein riesiges Exemplar entschied, dass sich unter dem aufgebauschten Stoff etwas Leckeres befinden musste. Seine Partnerin unterstützte ihn bei der Jagd. Die beiden Raubvögel griffen an, hakten im Sturzflug ihre Krallen in das gespannte Tuch und zerrten es auseinander. Dabei rissen sie einen großen Fetzen heraus.
Enttäuscht betrachteten die Adler ihre Ausbeute. Nestbaumaterial, in Ordnung, aber davon wurden sie nicht satt. Da musste noch ein wenig Fleisch dran, und das hing offenbar weiter unten. Sie nahmen einen zweiten Anlauf.
Rüdiger hatte gerade mit einem Zauberspruch das entstandene Loch notdürftig geflickt. Nun musste er die Leinen loslassen, um die Adler abzuwehren. Danach konnte er gerade noch einen Zipfel fassen. Der bauschige Schirm verwandelte sich in ein flaches Segel, das den freien Fall kaum abbremste. Mit dem schwerelosen Schweben war es vorbei. Hurtig ging es abwärts. Der Boden kam rasant näher.
Gerade rechtzeitig fiel Rüdiger ein, was Shigat oben gesagt hatte. Er war schließlich ein Zauberer, der sich mit den Elementen zu verbinden vermochte. Buchstäblich in letzter Minute gelang es ihm, sich auf das Element Luft einzulassen. Er spürte, wie die Schwingen der Windsbraut seinen Körper erfassten und überließ sich ganz ihrer Macht. Sie wirbelte ihn ein paar Mal um die eigene Achse, ehe sie ihn nochmals hinauftrug auf den Berg. Dort stand der hilfreiche Elf und sah sichtlich amüsiert zu, wie Rüdiger unfreiwillig Purzelbäume im Himmel schlug. Rüdiger breitete die Arme aus und versuchte, den Flug ein wenig zu steuern. Schließlich bekam er die Situation in den Griff und schwebte langsam in spiralförmigen Kreisen der Erde entgegen.
Unten standen die lachenden Gefährten und applaudierten seiner gelungenen Darbietung. Rüdiger bekam einen hochroten Kopf und warf das, was von dem guten Tuch noch übrig war, in weitem Bogen in die Luft. Tatsächlich erhob es sich, füllte sich von unten mit Luft und stieg anmutig nach oben. Der Elfe nahm es in Empfang und winkte ihnen von oben zu: „Gute Weiterreise!“
Die Sonne stand schon weit im Westen. Sie hielten Ausschau nach einem geeigneten Quartier. Unter einem Felsvorsprung einigermaßen vor Wind und Wetter geschützt richteten sie ihr Nachtlager ein. Da sie auf kethischem Boden unterwegs waren, mussten sie die Entdeckung nicht fürchten. Zum Schutz vor unliebsamen Überraschungen teilten sie dennoch Nachtwachen ein. Sie aßen von den Vorräten, die ihnen die Elfen mitgegeben hatten und plauderten angeregt über die Erlebnisse der vergangenen Tage.
„Ich werde Königin werden!“ brüstete sich Morriell. „Ich habe es in der Schale gesehen. Ich ritt auf einem Schimmel neben einem mächtigen König eine prachtvolle Straße entlang. Sobald ich in ihre Nähe kam, fielen meine Untertanen vor mir auf die Knie!“ Dabei sah sie Llewin erwartungsvoll an.
„Dann waren Deine Untertanen keine Seekethen“, entgegnete dieser. „Unser stolzes Volk beugt sich vor niemandem. Wir knien nur vor unseren Göttern. Unseren König bestimmt die Ratsversammlung, das Thing. Ihr gehören Vertreter aller sechs Stämme an. Warum sollten wir vor jemandem in den Staub sinken, den wir selbst wählen?“
„Sie werden es schon noch lernen“, entgegnete Morriell schnippisch.
„Vielleicht wird Morriell Königin der Feuerländer. König Curon gibt sich nicht damit zufrieden, dass seine Untertanen vor ihm niederknien. Er verlangt in der Tat, dass sie wie Würmer vor ihm im Staube kriechen!“ sagte Shigat bitter.
„Das ist nicht verwunderlich“, erläuterte Jago. „König Curon fürchtet ein Attentat. Er wäre nicht der erste König der Furukim, der eines gewaltsamen Todes stirbt. Liegen die Menschen auf den Knien, sind sie leichter zu kontrollieren. Will einer sein Schwert gegen den König ziehen, muss er sich erst erheben. Das kostet Zeit und gibt dem Angegriffenen einen Vorsprung.“
„Ein nettes Land, wo der König jederzeit mit der Attacke eines Vasallen rechnen muss. Kein Wunder, dass sie dabei Angstexperten geworden sind“, lästerte Mauro mit vollem Mund.
„Schwertattacken sind un-subtil“, gab Morriell zum Besten. „Ich würde Gift bevorzugen“.
„Typisch Frau“, ätzte Mauro zurück. „Ich sollte mich wohl in Zukunft hüten, Speisen aus Eurer Hand zu essen.“
„Was habt Ihr denn aus dem Spiegel erfahren?“ fragte Morriell Llewin. Dieser wollte nicht antworten, doch sie bedrängte ihn: „Sagt schon. Ward Ihr der König an meiner Seite?“
Llewin wollte seine Erfahrungen nicht preisgeben, schon gar nicht auf diese Art. Er nahm Zuflucht zu einem Scherz: „Ob ich ein König sein werde, konnte ich nicht erkennen. Jedenfalls sah ich mich im Ringkampf mit einer feurigen Gespielin!“
Morriell schnappte nach Luft und wollte schon weiter bohren, doch Mauro kam Llewin mit einer flapsigen Bemerkung zu Hilfe: „Ähnlich erging es mir, doch ich habe nur das Ergebnis des Ringkampfes gesehen: eine nette Ehefrau und eine Stube voller Töchter!“
„Töchter?“ rief Hamon entsetzt. „Ich hoffe, Du wirst nicht nur eine Ehefrau haben!“
„Was ist gegen Töchter einzuwenden?“ fragte Shigat erstaunt. „In Yian Mah kommt Ihr damit groß raus!“
„Töchter sind schon in Ordnung, denn auch an sie vererbt sich die Macht der Zauberer“, erwiderte Mauro eingedenk der Weissagung. „Für einen Kethen ist eine Ehefrau genug, Gott bewahre. Wie viele hast denn Du?“
Hamon zählte an den Fingern ab: „Insgesamt habe ich fünfmal geheiratet. Eine hat die Strapazen unserer Flucht nicht überlebt, und eine starb vor der Zeit im Kindbett. Eine weitere verlor ich kurz nach der Hochzeit, als in unserem Lande die Revolte losging. Sie geriet zwischen die Fronten, als sie zum Markt wollte. Sie wurde niedergemetzelt – kein schöner Anblick. Im Moment sind es zwei, die erste und die jüngste – die habe ich unterwegs aufgegabelt, eine wahre Schönheit mit feurigen Augen und pechschwarzen Locken. Sie brauchte Schutz. Ich erbarmte mich ihrer.“
„Wie großherzig. Und wie viele weitere Ehefrauen hast Du im Spiegel gesehen, alter Nimmersatt?“ lachte Mauro.
„Ich weiß es nicht, doch es mögen noch einige hinzukommen. Ich sah mich als gemachten Mann in einem gemütlichen Heim, im Kreise meiner Lieben. Ich hatte den Eindruck, dass ich tat, was ich am besten kann: verwalten und organisieren. Alles war üppig und prächtig, wie ich es gerne mag. Es gab keinen Mangel und vor allen Dingen war es nicht kalt und feucht wie hier! Ich brauchte mich nicht mehr auf einem Pferderücken durch die Lande zu quälen, wo ich den Gürtel beinahe täglich ein Stückchen enger schnallen muss. Ich durfte in Ruhe Speck ansetzen und von vergangenen Heldentaten erzählen, die ich mit meinem lieben Freund Mauro erlebte!“
Mauro schüttelte verständnislos den Kopf: „Hamon, Hamon, kaum vierzig Winter alt und Du möchtest schon Moos ansetzen? Da ist noch eine halbe Welt, die darauf wartet, von uns erobert zu werden.“
„Ich helfe Dir ja gerne, Mauro. Doch wenn ich die Wahl hätte, täte ich das lieber vom Schaukelstuhl aus! Wie Du richtig bemerkst, bin ich keine fünfundzwanzig mehr. Dein Tatendrang strapaziert mich.“
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