„Was meint Ihr zu der Weissagung? Ich meine ... Ihr glaubt doch an das, was wir in der Schale gesehen haben?“
„Ja, ich glaube daran. In einer Weissagung steckt immer ein Körnchen Wahrheit. Doch dieses Körnchen ist oft gut verborgen, hinter einem doppelten Sinn. Bei manchen Prophezeiungen habe ich bis heute nicht herausgefunden, was sie mir sagen wollten. Mitunter erkannte ich die Wahrheit erst, wenn ich schon mitten drinnen im Schlamassel steckte. Großartig, wenn dann einer sagt: >ich habe Dich gewarnt<. Prophezeiungen tendieren dazu, sich selbst zu erfüllen – vergesst das nicht. Wenn Ihr heiratet, bloß weil Ihr es in der Schale gesehen habt, dann bewahrheitet sich die Weissagung allein durch Eure Entscheidung.“
„Was bedeuten dann die Bilder in der Schale?“
„Ihr saht Euch selbst glücklich, in inniger physischer Verschmelzung mit einer Dame. Ihr seid überzeugt, dass es Morriell war. Ihr mögt Sex und Ihr mögt Morriell. Warum sollte Euch das nicht als günstige Perspektive angeboten werden?“ fragte Mauro zurück.
„Das ist es nicht.“ Llewin versuchte, seine Bedenken in Worte zu fassen: „Ihr anderen saht Dinge, die weit in der Zukunft liegen – zum Beispiel Eure Töchter, die noch nicht einmal geboren sind. Meine glücklichste Stunde zeigt etwas, das ich bereits genossen habe. Wie soll ich das interpretieren?“
Mauro verstand Llewins Bedenken und sagte ehrlich: „Ich habe keine Ahnung. Alles, was ich jetzt hineininterpretieren wollte, wäre aus der Luft gegriffen.“
Llewin nickte verständnisvoll: „Ich danke Euch, dennoch, für Eure ehrlichen Worte.“
„Überlegt es Euch gut – die Sache mit Morriell. In Eurem Alter neigt man dazu, mit dem Schwanz zu denken. Glaubt mir, mit dem Kopf erzielt man bessere Resultate.“
Das Tal verbreiterte sich und vor ihnen lag Melgart. Alle Nordrouten führten an dieser befestigten Ansiedlung vorbei. Wanderer, die den Steinernen Sattel überquerten, machten gerne dort Rast. Es gab alles, was ein Reisender auf seinem Weg über die rauen Berge benötigte.
Um diese Zeit kamen allerdings kaum Wanderer des Wegs. Der Steinerne Sattel war höher als der weiter östlich gelegene Wolkenpass. Im Sommer spielte das keine große Rolle, doch im Winter machten Eis, Schnee und Lawinen die Passage für viele Wochen unpassierbar. Umso überraschter waren die Bewohner, als Llewin mit seiner bunt zusammen gewürfelten Truppe Einzug hielt.
„Hier sind wir Gäste des Nordstammes. Sie nennen sich die Biberjäger“, erläuterte Llewin. „Biber gibt es mehr als genug in dieser Gegend. Sie sind wohlschmeckend“.
Der Häuptling der Biberjäger hieß den Sohn ihres Königs und dessen Begleitung standesgemäß willkommen. Mauro wunderte sich, dass Llewin hier ein gerne gesehener Gast war. Im Norden lagen die Stämme untereinander die meiste Zeit in bitterer Fehde.
„Früher war das auch bei uns so“, erläuterte Llewin. „Doch die ständige Bedrohung durch die Feuerfresser jenseits der Hügelkette schweißte die Stämme der Seekethen zusammen. Sie haben begriffen, dass sie nur gemeinsam bestehen können. So wählen sie stets den stärksten unter den Häuptlingen zu ihrem König. Seine Aufgabe ist es, Streitigkeiten zu schlichten und das Heer anzuführen, wenn die Furukim mal wieder lüstern auf die fruchtbare Ebene schielen. Bisher haben wir uns mit Erfolg behauptet.“
„Heißt das, es ist nicht sicher, dass Ihr der nächste König der Seekethen sein werdet?“ fragte Morriell enttäuscht, „obwohl Ihr König Iolairs ältester Sohn seid?“
„So ist es, werte Dame. Die Thing-Fürsten bestimmen, wer nach meinem Vater König wird. Ich kann bloß hoffen, in die engere Wahl zu kommen. Seid Ihr enttäuscht?“
„Nein“, sagte Morriell, doch ihr Gesichtsausdruck verriet etwas anderes.
„Nun wollt Ihr nicht mehr die meine werden?“ fragte Llewin hoffnungsvoll. Die Gelegenheit erschien ihm günstig, ein >nein< zu kassieren.
Morriell zögerte ein wenig. Dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht: „Habt Ihr eben um meine Hand angehalten? Das ist ja ... Ja, ich will“, rief sie entschlossen aus. „Lasst uns sogleich Hochzeit feiern!“
Llewin wurde blass. So hatte er das nicht gemeint. Alles ging ihm viel zu schnell: „Meine Sippe würde mir verübeln, wenn ich heimlich in ihrer Abwesenheit heiratete. Natürlich brauche ich die Zustimmung meiner Eltern für meine Wahl.“ Als Morriell die Mundwinkel nach untern zog, fügte er mit süß-saurem Lächeln hinzu: „Ich zweifle nicht daran, dass ich sie erhalten werde. Doch Ihr solltet vorher Euren Vater fragen.“
Morriell sah Mauro mit einem Blick an, als wollte sie sagen: >Was hat der damit zu tun?< Sie beherrschte sich jedoch und schwieg.
Mauro machte eine Geste, die besagte: >tut, was ihr wollt<.
„Wir könnten zumindest das Eheversprechen feiern“, schlug der Häuptling der Biberjäger mit breitem Grinsen vor. „Das ist bei uns so Sitte und wird König Iolair gewiss nicht verärgern. Es ist gut, noch einmal richtig zu feiern, ehe alles in die Binsen geht. Feiern stärkt Leib und Seele!“
„Davon bin ich nicht überzeugt“, meinte Hamon, der an den Kater danach dachte. „Auch bezweifle ich, dass wir dafür genügend Zeit haben.“
„Es ist nur noch ein vier-, vielleicht Fünftagesritt. Der Feuertempel von Knyssar liegt gleich hinter diesem Berg da hinten. Nur noch ein Pass ist zu überqueren, der müsste um diese Jahreszeit schneefrei sein. Ihr reist auf einem ausgetretenen Maultierpfad. Schmuggler benutzen ihn regelmäßig. Die Furukim haben kaum zu essen. Sie bieten alles zum Tausch an, was sie entbehren können. Den Weg könnt Ihr nicht verfehlen. Ein paar meiner Männer geleiten euch bis zur Grenze“, bot der Häuptling an.
„Wann wird das Ritual stattfinden?“ fragte Mauro.
Jago, der regelmäßig die Sterne beobachtete, antwortete ohne einen Hauch von Zweifel: „In acht Tagen.“
„Zu früh sollten wir auf keinen Fall ankommen“, überlegte Mauro. „Sobald wir dort aufkreuzen, sind wir unseres Lebens nicht mehr sicher. Wir dürfen weder schlafen noch essen. Ständig müssen wir auf Übergriffe gefasst sein. Das hält man nicht lange durch.“
„Knyssar ist ein uraltes Heiligtum, keine Räuberhöhle“, wies Jago ihn empört zurecht. Er hatte im Tempel mehrere Jahre zugebracht und besaß eine hohe Meinung von seiner Ausbildungsstätte. „Für den Wettkampf gibt es Regeln. Die Bewerber stehen unter dem Schutz des Tempelordens, sobald sie die Schwelle überschritten haben.“
„Trotzdem sollten wir ausgeruht ankommen“, beharrte Mauro.
„Ausgezeichnet, dann bleiben wir für drei Nächte in Melgart. Wir haben Zeit genug“, fasste Llewin zusammen und strahlte seine Auserwählte freudig an. Nachdem alles entschieden war, fühlte er sich besser.
„Ihr seid meine Gäste“, freute sich der Häuptling, der jeden Grund zum Feiern in diesen schwierigen Zeiten willkommen hieß. Was sie heute versoffen, konnten ihnen die Feuerfresser morgen nicht mehr wegnehmen. „Ich werde ein Fest vorbereiten, an das Ihr lange denken sollt!“
„Zeitlich wäre es verdammt knapp geworden, wenn wir uns gegen den Flug von der Felswand entschieden hätten“, rechnete Rüdiger nach. Nun ja, sie hatten es gut überstanden. Eine kleine Feier war das schon wert.
Sie blieben die darauf folgenden Tage in Melgart und ließen sich von ihren Gastgebern verwöhnen. Für Llewin und Morriell wurde eine kleine Zeremonie abgehalten, auf die ein üppiges Festbankett folgte. Danach hatten die beiden reichlich Gelegenheit, ungestört für sich zu sein. Morriell zeigte sich wieder einmal von ihrer netten Seite und bereitete ihrem zukünftigen Bräutigam schöne Stunden.
Auch die anderen genossen die Ablenkung, es wurde gespielt, gesungen und musiziert. Gaukler machten ihre Aufwartung und unterhielten die Gesellschaft mit allerlei Kunststücken. „Seht gut zu, Meister Randirgardh“, lästerte Llewin wohlwollend, „damit Ihr Euch bei Eurer nächsten Vorstellung nicht wieder blamiert.“
Читать дальше