Alexander Wolkow
Der Zauberer der Smaragdenstadt
Aus dem Russischen von Leonid Steinmetz
Illustriert von Leonid Wladimirski
Originaltitel:
© RADUGA – Verlag, Moskau
Buchhandels- und Verlagsanstalt GmbH
Lizenzausgabe für Deutschland, Österreich, Schweiz
2. Auflage 1993
Printed in Germany
Offizin Andersen Nexö Leipzig GmbH
Graphischer Großbetrieb
ISBN 3-928885-05-7
In der weiten Steppe von Kansas lebte ein kleines Mädchen namens Elli. Ihr Vater, der Farmer John, arbeitete den ganzen lieben Tag auf dem Felde, Mutter Anna führte die Wirtschaft.
Sie wohnten in einem kleinen Packwagen, dem man die Räder abgenommen hatte.
Die Einrichtung ihres Häuschens war armselig: ein Blechofen, ein Schrank, ein Tisch, drei Stühle und zwei Betten. Vor der Tür befand sich ein »Sturmkeller«, in dem die Familie bei Gewitter Zuflucht suchte.
Die Gewitter der Steppe hatten das leichte Häuschen von Farmer John schon viele Male umgeworfen. Doch er verzagte niemals. War der Sturm vorbei, richtete er das Häuschen wieder auf, stellte Ofen und Bett auf ihren Platz, und Elli las die Zinnteller und Tassen vom Boden auf. Dann war wieder alles in Ordnung, bis das nächste Gewitter kam.
Ringsum dehnte sich bis an den Horizont die Steppe. Da und dort waren ebensolche ärmliche Häuschen zu sehen wie das von Farmer John. Äcker umgaben sie, auf denen die Leute Weizen und Mais anbauten.
Elli kannte alle Nachbarn drei Meilen weit im Umkreis. Im Westen lebte Onkel Robert mit seinen Söhnen Bob und Dick. Im Norden stand das Häuschen des alten Rolf, der wunderschöne Windmühlen für die Kinder bastelte.
Die weite Steppe kam Elli nicht öde vor, denn sie war dort geboren und kannte überhaupt keinen anderen Ort. Berge und Wälder hatte Elli nur auf Bildern gesehen, und sie lockten sie gar nicht. Wohl deshalb, weil sie in ihren billigen Büchern schlecht gezeichnet waren.
War’s ihr langweilig, rief sie das lustige Hündchen Totoschka und machte sich mit ihm zu Dick und Bob auf, oder sie ging zum alten Rolf, von dem sie stets mit einem Spielzeug heimkehrte, das er selber gefertigt hatte.
Totoschka sprang bellend vor dem Mädchen einher, jagte den Krähen nach und war sehr zufrieden mit sich und seiner kleinen Herrin. Das Hündchen hatte ein schwarzes Fell, spitze Ohren und kleine, lustige Äuglein. Ihm war es nie langweilig, es konnte den ganzen Tag mit dem Mädchen spielen.
Elli hatte viele Sorgen. Sie mußte der Mutter in der Wirtschaft helfen und beim Vater lesen, schreiben und rechnen lernen; denn die Schule war weit entfernt, und Elli war noch zu klein, um jeden Tag hinzugehen.
An einem Sommerabend saß sie auf der Treppe des Häuschens und las laut in einem Märchenbuch, während Mutter Anna Wäsche wusch.
»Und da sah der mächtige Riese Arnaulf den Zauberer, der so hoch wie ein Turm war«, las Elli in singendem Tonfall, während ihr Finger die Zeilen entlangglitt. »Flammen schossen aus dem Mund und der Nase des Zauberers.«
»Mutti, gibt es jetzt Zauberer?« fragte Elli aufblickend.
»Nein, mein Kind. Zauberer gab es einst, doch dann verschwanden sie. Ich wüßte nicht, wer sie braucht. Auch ohne sie gibt es Sorgen genug…«
Elli rümpfte drollig die Nase:
»Ja, aber ohne Zauberer ist es doch langweilig. Wenn ich Königin wäre, würde ich unbedingt Befehl geben, daß jede Stadt und jedes Dorf einen Zauberer hat. Und daß er für die Kinder allerlei Wunder tut.«
»Welche zum Beispiel?« lächelte die Mutter.
»Nun… daß jedes Mädelchen und jeder Junge, wenn sie morgens aufwachen, einen großen Pfefferkuchen unterm Kissen finden… Oder…« Elli schaute mißmutig auf ihre derben, ausgetretenen Schuhe, »… daß alle Kinder schöne leichte Schuhe haben…«
»Schuhe bekommst du auch ohne Zauberer«, entgegnete Mutter Anna. »Vater nimmt dich auf den Markt mit und kauft dir welche…«
Während das Mädchen mit der Mutter sprach, verdunkelte sich der Himmel.
* * *
Zur gleichen Stunde saß in einem fernen Lande hinter hohen Bergen die böse Hexe Gingema in einer tiefen, finsteren Höhle und zauberte.
Es war unheimlich in dieser Höhle. Unter der Decke hing ein riesiges ausgestopftes Krokodil. Auf hohen Stäben saßen große Uhus, und von der Decke hingen Bündel getrockneter Mäuse herab, mit den Schwänzen an Schnürchen festgebunden wie Zwiebeln. Eine lange dicke Schlange, die sich um einen Pfeiler gewunden hatte, schaukelte gleichmäßig ihren bunten flachen Kopf. Diese und viele andere seltsame und grausige Dinge gab es in der weiten Höhle Gingemas.
Sie braute in einem großen verräucherten Kessel einen Zaubertrank, in den sie Mäuse hineinwarf, die sie, eine nach der andern, von dem Bündel pflückte.
»Wo hab ich nur die Schlangenköpfe hingetan?« brummte Gingema böse vor sich hin. »Ich habe sie doch nicht alle beim Frühstück aufgegessen. Oh, da sind sie ja, im grünen Topf. Das wird ein prächtiger Trank!… Jetzt will ich’s den verfluchten Menschen heimzahlen! Wie ich sie hasse!… Sie haben sich über die Welt verbreitet, die Sümpfe trockengelegt und die finsteren Wälder abgeholzt!… Alle Frösche haben sie ausgerottet!… Sie vernichten die Schlangen! Keinen Leckerbissen haben sie auf der Erde gelassen! Soll ich mich jetzt nur noch mit Würmern und Spinnen laben?…«
Gingema schüttelte drohend ihre knochige Faust und warf Schlangenköpfe in den Kessel.
»Uh, diese verhaßten Menschen! So, nun ist der Trank fertig. Auf daß ihr an ihm verrecket! Ich werde Wald und Feld damit besprengen, und ein Sturm wird ausbrechen, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hat!«
Gingema faßte den Kessel an den Henkeln und trug ihn keuchend aus der Höhle. Dann tauchte sie einen großen Besen ein und begann das Gebräu um sich zu verspritzen.
»Entlade dich, Sturm! Brause durch die Welt wie ein reißendes Tier. Zerbreche, zermalme, zerschmettre! Stürze die Häuser um, heb sie in die Luft! Sussaka, massaka, lema, rema, gema!… Burido, furido, sema, pema, fema!…«
Sie stieß die Zauberworte hervor und fuchtelte mit dem zerzausten Besen. Der Himmel verfinsterte sich, Wolken zogen herauf, der Wind heulte, Blitze zuckten in der Ferne…
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