
»Ach, ach, ach!« entsetzten sich die Käuer, »das ist ja der Eingang zur Höhle der bösen Gingema! Und du hast dich hineingewagt?«
»Was ist schon dabei? Gingema ist ja tot!« entgegnete Totoschka.
»Du bist wohl auch ein Zauberer?« fragte der Älteste zitternd, und alle anderen Käuer nickten so lebhaft, daß die Schellen an ihren Hüten im Takt klingelten.
»Und als ich in die Höhle stieg, wie ihr das Loch nennt, da sah ich viele drollige und merkwürdige Dinge. Am meisten gefielen mir aber die Schuhe, die am Eingang standen. Große Vögel mit schrecklichen gelben Augen wollten mich hindern, die Schuhe zu nehmen, aber ein Totoschka läßt sich nicht ins Bockshorn jagen, wenn er seiner Elli einen Dienst erweisen will!«
»Du, mein tapferer Liebling!« rief Elli aus und drückte das Hündchen zärtlich an sich. »Mit diesen Schuhen werde ich bestimmt niemals müde!«
»Schön, daß du die Schuhe der bösen Hexe bekommen hast«, fiel ihr der Älteste der Käuer ins Wort. »Sie besitzen wahrscheinlich Zauberkraft, denn Gingema pflegte sie nur bei äußerst wichtigen Anlässen anzuziehen. Wir wissen nicht, was das für eine Kraft ist… Sag, willst du wirklich von uns gehen, liebe Fee?« fragte der Älteste seufzend. »Dann wollen wir dir schnell Mundvorrat für die Reise bringen.«

Die Käuer gingen. Elli fand ein Stück Brot in ihrem Häuschen und aß es am Ufer eines Baches. Dann trank sie vom klaren, kalten Wasser und begann zum weiten Weg zu rüsten, während Totoschka unter einem Baum umhersprang und nach einem krächzenden bunten Papagei schnappte, der auf einem Zweig saß und das Hündchen neckte.
Elli trat aus dem Häuschen, schloß sorgfältig die Tür und schrieb mit Kreide darauf: »Ich bin nicht zu Hause.«
Da kehrten auch schon die Käuer zurück. Sie hatten so viel Essen mitgebracht, daß es Elli für Jahre gereicht hätte: ganze Hammel, Gänse und Enten, einen Korb mit Obst…
Elli lachte:
»Was soll ich mit soviel Essen anfangen, liebe Freunde?«
Sie legte ein wenig Brot und Obst in den Korb, nahm von den Käuern Abschied und machte sich mit dem lustigen Totoschka tapfer auf den Weg.
* * *
Nicht weit von dem Häuschen gabelte sich die Straße. Elli wählte die, die mit gelbem Backstein ausgelegt war. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und das kleine Mädchen, das vom Schicksal in ein wunderliches Land verschlagen worden war, fühlte sich ganz wohl.
Zu beiden Seiten des Weges zogen sich blaue Zäune hin, hinter denen bestellte Felder lagen. Da und dort waren runde Häuschen zu sehen, deren Dächer den Spitzhüten der Käuer ähnelten. Auf den Dächern glitzerten Kristallkugeln. Die Häuschen waren blau angestrichen.
Auf den Feldern arbeiteten kleine Männer und Frauen.
Sie zogen vor Elli die Hüte und nickten ihr freundlich zu, denn jeder wußte jetzt, daß das Mädchen mit den Silberschuhen das Land von der bösen Zauberin befreit hatte, daß sie mit ihrem Häuschen – krak, krak! – auf den Kopf der Hexe niedergesaust war.
Die Käuer, denen sie unterwegs begegneten, blickten ängstlich staunend auf Totoschka und hielten sich die Ohren zu, wenn er bellte. Wenn das brave Hündchen auf einen Käuer zulief, so floh dieser, so schnell er konnte. Im Lande Goodwins gab es nämlich keine Hunde.
Am Abend verspürte Elli Hunger. Sie dachte nach, wo sie die Nacht verbringen solle, da erblickte sie ein großes Haus, das dicht am Wege stand. Auf einem Rasen vor dem Hause tanzten kleine Männer und Frauen. Musikanten spielten eifrig auf kleinen Geigen und bliesen Flöte. Auch Kinder tummelten sich da, die so klein waren, daß Elli staunte. Sie sahen wie Puppen aus. Auf einer Terrasse standen lange Tische mit Tellern voller Obst, Nüssen und Bonbons, schmackhaften Kuchen und großen Torten.
Als Elli herankam, trat ein schöner, hoher Greis aus der tanzenden Schar (er war um einen ganzen Finger größer als Elli!), verneigte sich und sagte:
»Ich und meine Freunde feiern heute die Befreiung unseres Landes von der bösen Zauberin. Darf ich die mächtige Fee des Tötenden Häuschens zu unserem Fest einladen?«
»Warum meint Ihr, daß ich eine Fee bin?« fragte Elli.
»Du hast die böse Zauberin Gingema zerdrückt – krak, krak! –, wie eine hohle Eierschale; du trägst ihre Zauberschuhe und hast ein merkwürdiges Tier bei dir, wie wir es noch nie gesehen haben und von dem unsere Freunde sagen, daß es gleichfalls Zauberkräfte besitzt…«
Darauf wußte Elli nichts zu erwidern, und sie folgte dem Alten, der Prem Kokus hieß. Die Leute nahmen sie wie eine Königin auf. Ihre Schellen an den Hüten klingelten ohne Unterlaß, es wurde viel getanzt, man verzehrte unzählige Kuchen und trank eine Menge erfrischender Getränke. Es war ein so angenehmer und lustiger Abend, daß Elli erst beim Einschlafen an Vater und Mutter dachte.
Am Morgen nach dem reichlichen Frühstück fragte sie den alten Kokus:
»Ist es von hier weit bis zur Smaragdenstadt?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte dieser nachdenklich. »Ich war nie dort. Man hält sich dem Großen Goodwin lieber fern, besonders, wenn man kein wichtiges Anliegen an ihn hat. Außerdem ist auch der Weg in die Smaragdenstadt sehr lang und beschwerlich. Du wirst durch finstere Wälder gehen und reißende Flüsse überqueren müssen.«
Elli war betrübt, solches zu hören, aber sie wußte, daß nur der Große Goodwin sie nach Kansas zurückbringen könne, und so verabschiedete sie sich denn von den lieben Leuten und beschritt wieder den Weg, der mit gelbem Backstein gepflastert war.
Elli wanderte rastlos mehrere Stunden, und als sie müde wurde, setzte sie sich vor einem der blauen Zäune hin, hinter dem sich ein Feld mit reifem Weizen zog. In der Nähe stand ein hoher Pfahl, auf dem eine Vogelscheuche aufgesteckt war. Der Kopf bestand aus einem mit Stroh ausgestopften Sack, auf den man Augen und Mund gemalt hatte, so daß das Gesicht sehr komisch wirkte. Die Scheuche hatte einen abgetragenen blauen Rock an, aus dessen Nähten an manchen Stellen das Stroh herausragte. Der Kopf war mit einem alten schäbigen Hut bedeckt, dem man die Schellen abgeschnitten hatte, und die Füße staken in blauen Schaftstiefeln, wie sie die Männer des Landes trugen.
Die Scheuche hatte ein komisches und gutmütiges Aussehen.
Elli betrachtete aufmerksam das bemalte Gesicht und staunte nicht wenig, als ihr plötzlich das rechte Auge zublinzelte. Zunächst dachte sie, es sei eine Täuschung, denn in Kansas blinzelten die Vogelscheuchen nicht. Als ihr aber der Strohmann freundlich zunickte, erschrak sie, und der tapfere Totoschka sprang bellend am Zaun hoch, hinter dem die Scheuche stand.
»Guten Tag«, sagte diese mit heiserer Stimme.
»Du sprichst?« wunderte sich Elli.
»Ja. Ich habe es gelernt, als ich mich mit einer Krähe zankte. Wie geht es dir?«
»Danke, gut! Sag, lieber Mann, hast du einen sehnlichen Wunsch?«
»O ja! Ich hab eine Menge Wünsche!« Die Scheuche begann hastig ihre Wünsche aufzuzählen: »Erstens brauche ich silberne Schellen für meinen Hut, zweitens neue Stiefel, drittens…«
»Oh, das reicht vollauf«, unterbrach ihn Elli. »Aber was ist dein sehnlichster Wunsch?«
»Der sehnlichste?« Der Strohmann dachte einen Augenblick nach. »Nimm mich herunter. Es ist schrecklich langweilig, Tag und Nacht hier zu stehen und die widerlichen Krähen zu verscheuchen, die, nebenbei gesagt, gar keine Angst vor mir haben!«
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