Es ist aber nicht nur die Verarmung und der daraus entstandene Bedrohungspotential. Über die allgemeine Verschlechterung des Umgangs der Menschen miteinander in der letzten Jahren – das sich ausbreitende asoziale Verhalten in allen Schichten – wurde inzwischen häufig berichtet. [82] Zum Teil ließe sich dieses Verhalten auf das propagierte Paradigma des fast sozialdarwinistisch geprägten „neuen Managements“ zurückführen mit dessen „Erfolgsdogma“ als einzigem Wert und den entsprechenden Schulungsmethoden in Selbstdarstellung und Durchsetzungsvermögen (z.B. Arroganztraining für Frauen). In der sozialwissenschaftlichen Forschung spricht man auch von „Paradigma der sozialen Exklusion“ . Im Unterschied zur „Differenzierung“ der Gesellschaft in der Moderne handelt es sich um eine Art „Fragmentierung“, um Ab- und Ausgrenzung der Verlierer und gegenseitige Vergleichgültigung. Das Ergebnis ist die Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die dazugehören, und diejenigen, die da sind, ohne dazuzugehören, das sog. „Prekariat“ – eine Kategorie, die sich vom klassischen „Proletariat“ dadurch unterscheidet, daß die stets anwachsende Zahl von Menschen in keinen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen (etwa in Minijobs, Praktika, Leiharbeit, befristeten, niedrig entlohnten Tätigkeiten oder staatlich geförderten Beschäftigungsprogrammen) in der postmodernen Gesellschaft die „Überflüssigen“ sind. [83] Das Phänomen Armut nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in den reichsten Ländern der Welt wie Deutschland, ist somit wieder zu einem Thema geworden, worüber öfters berichtet und über dessen Beseitigung kontrovers diskutiert wird. [84] Man spricht in diesem Fall auch von „relativer Armut“ im Unterschied zur „absoluten“, die es hierzulande nicht oder nur ausnahmsweise gibt, als handle es sich um etwas Selbstverständliches. Zwar soll in Deutschland – im Unterschied zu dem allgemeinen Trend in der ganzen Welt – die Kluft zwischen Arm und Reich seit 2005 nicht mehr gewachsen sein, sie sei aber auch nicht kleiner geworden; man mag die Situation Deutschlands in bezug auf wirtschaftlich-soziale Verhältnisse in den letzten zehn Jahren je nach Sichtweise als Stabilität, oder auch als Stillstand werten. [85] Die Schieflagen, vor denen in den Jahrzehnten zuvor so gewarnt wurde, sind inzwischen zur Normalität geworden.
Selbstverständlich und vielen einleuchtend scheinen auch die politischen Ablenkungsmanöver von eigener Unfähigkeit auf vermeintliche Katastrophen und Sündenböcke. So werden Schuldige für die Gebrechen der heutigen Gesellschaft, etwa die schlechte wirtschaftliche, finanzielle und soziale Lage, ganz anderswo wahrgenommen, als wohin der ursächliche Zusammenhang hinweist, zum Beispiel auf die aufgeblähte, teure und alles lähmende Bürokratie, staatliche Verschwendung, Größenwahn, Inkompetenz und Korruption der Führungskräfte, Macht- und Karrieresucht der Politik, oder auch auf strukturelle Deformationen der Märkte, die Vetternwirtschaft, Lobbyismus und Machtmißbrauch begünstigen, Konkurrenz und echte Reformen dagegen verhindern. Statt dessen wird die Schuld im Mißbrach von sozialen Leistungen, in Kapitalflucht und Steuerhinterziehung (sog. Wirtschaftskriminalität), oder bei den Ausländern, die den Deutschen angeblich die Arbeit wegnehmen, sowie in Billiglöhnen im Ausland und in der Globalisierung allgemein gesucht. Das ist zwar nicht ganz falsch, wie der strukturelle Wandel der Wirtschaft in den letzten Jahren deutlich machte. Die Ursachen von Arbeitslosigkeit und Armut wurden allerdings zunächst von den Forschern ziemlich übereinstimmend nicht in der Globalisierung gefunden, d.h. der Konkurrenz von Billiglohnländern und der Verlagerung der Produktion ins Ausland, [86] wie es vor allem Globalisierungsgegner und Wirtschaftsmoralisten darlegen, sondern in der wachsenden Produktivität durch technischen Fortschritt und der Unfähigkeit oder Unwilligkeit, auf die internationalen Herausforderungen richtig zu reagieren. [87] Mit anderen Worten: Die eigentliche Ursache der „neuen Armut“ sei demnach die Krise des Sozialstaates selbst, insbesondere die Konstruktionsmängel der sozialen Sicherungssysteme, [88] sowie die politischen Fehlorientierungen und Selbstblockaden .
Diese Erklärungen zu Beginn des Jahrtausends mögen zu einem Teil berechtigt sein: Es gibt tatsächlich einen anhaltenden Rationalisierungstrend durch technische Neuerungen, und es gibt ebenfalls politische Fehlentscheidungen und strukturelle Schwächen des Sozialstaates. Sie suggerieren dennoch ein verzerrtes Bild, in dem die Hauptschuld an der anhaltenden Arbeitslosigkeit verschwiegen oder verharmlost wird. Die im Laufe der Jahre vollzogene Deindustrialisierung Europas, von der Deutschland wohl etwas weniger betroffen ist als etwa Frankreich oder Großbritannien, ist kein Phänomen, das man mit Vorurteilen der Globalisierungsgegner einfach abtun und mit etwas radikaleren Reformen der sozialstaatlichen Strukturen beheben kann. Auch läßt sich der ganze Produktionsausfall der Industrie nicht durch die Verlagerung auf die wachsende Informationsbranche oder den Dienstleistungssektor ersetzen. Denn diese Wirtschaftszweige sind zwar nicht „unproduktiv“ im Sinne des in den ehemaligen kommunistischen Ländern üblichen gesamtwirtschaftlichen Bilanzrechnung; [89] sie stellen aber auch keinen vollwertigen Ersatz für den zweiten Sektor dar: erstens, weil dafür nur ein relativ kleiner Teil der in der Gesellschaft vorhandenen Arbeitskräfte gebraucht wird, zweitens, weil der dort erwirtschaftete Gewinn nur einem geringen Bevölkerungsanteil zugute kommt (Hauptursache für die wachsende Diskrepanz zwischen Reich und Arm), und schließlich auch deshalb, weil die Leistungen des dritten Sektors zu einem großen Anteil durch die Belastung des produktiven Wirtschaftsektors oder des Staates finanziert werden. Das funktioniert nur so lange, wie die wirtschaftliche Substanz der ganzen Gesellschaft noch stark genug ist, daß sie sich diese zusätzlichen Dienstleistungen auch leisten kann. Handelt es sich um steuerfinanzierten Staatskonsum bzw. eine vom Staat subventionierte Produktion (etwa die neugeschaffenen Arbeitskräfte, Ausgaben für Kultur, Sport oder überflüssige Bürokratie), die nur noch durch immer wachsende Staatsschulden bezahlt weden kann, enthält die ganze Wirtschaftsleistung dieses Sektors im wachsenden Maße einen parasitären Charakter: Man wirtschaftet somit auf Kosten anderer Wirtschaftssubjekte oder der Zukunft. Der gesellschaftliche Bedarf an solchen Leistungen ist ohnehin nur zum Teil berechtigt, zum Teil künstlich entstanden aufgrund von gesellschaftlichen Gebrechen oder überflüssigen Komplikationen und Schieflagen (etwa die der Drogentherapeuten, Arbeitslosenbetreuer, Steuer- oder Finanzberater), zum Teil völlig überflüssig, jedenfalls aber überdimensioniert. Das bedeutet im Klartext, daß eine Gesellschaft, die sich nicht mehr als eine Industriegesellschaft konstituieren will, einen Massenbedarf an Arbeitskräften, wie es am Höhepunkt ihres wirtschaftlichen Wachstums der Fall war, nicht mehr hat.
In dieser Situation führt eine gern als Lösung präsentierte „geburtenfreundliche“ Politik , die stärkere Förderung von Familien durch Kinderfreibeträge, Kinder- oder Erziehungsgeld (bzw. Elterngeld), bis hin zu der heute forcierten Politik der Schaffung von mehr Krippenplätzen, mit der man die erwünschte Geburtenzunahme erreichen möchte, nicht zu größeren künftigen Einnahmen des Staates und der Kassen, sondern nur zu ihrer zusätzlichen Belastung. Nicht nur deshalb, weil die verschiedenen Maßnahmen (einerseits Kita-Ausbau, andererseits Betreuungsgeld für das Zuhausebleiben von Kleinkindern, [90] Ehegattensplitting auch für kinderlose, ja homosexuelle Paare, usw.) sehr teuer und in sich widersprüchlich sind. [91] Die Vorstellung selbst ist anachronistisch: Denn auch dann, wenn die ganzen Förderungen die Bevölkerungsabnahme und damit die Alterung der ganzen Gesellschaft tatsächlich bremsen oder aufhalten könnte, wäre dies keine Lösung der bestehenden Probleme, weil diese Sicht nur die Rentenproblematik, aber nicht den strukturellen Wandel der Gesellschaft (die Entindustrialisierung und die damit verursachte Arbeitslosigkeit) berücksichtigt. Die in den statistischen Prognosen aufgezeichneten Beschäftigten werden nämlich aus ihren Einkommen neben immer mehr Rentnern noch einige zusätzliche Arbeitslose unterhalten müssen, und zwar desto mehr, je mehr Menschen da sind. Die gleiche Problematik gilt übrigens auch für die in den letzten Jahren immer mehr geforderte Zuwanderung von Ausländern, von denen in Wirklichkeit nur ein ganz geringer Anteil als Arbeitskräfte tatsächlich gebraucht wird. Mehr „Menschenmaterial“ bedeutet nicht zwangsläufig Einkommenszuwachs, sondern in Zeiten wirtschaftlichen Wandels nur die Beschleunigung des Niedergangs. Das Problem besteht auch nicht darin, daß eine schrumpfende Bevölkerung ihre immer länger lebenden Senioren nicht mehr ernähren kann, sondern daß die Renten und alle übrigen sozialen Systeme (die Arbeitslosen- und Krankenversicherung) an das Arbeitseinkommen gekoppelt sind.
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