Auf die Problematik der veralteten Finanzierungsstruktur der heutigen sozialen Systeme ging Kurt Biedenkopf in seinem Buch Die Ausbeutung der Enkel ein. Angesichts der dramatischen Veränderungen, die unsere heutige Situation kennzeichnen, vergrößert sich auch die Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben in der Finanzierungsgrundlage unserer Sozialsysteme. Biedenkopf wiederholte eigentlich die fast in jeder Kritik genannten Sachverhalte, vor allem die Diskrepanz:
1. zwischen abnehmender und alternder Bevölkerung in Europa, deren Lebensweise jedoch den Großteil der Weltressourcen für sich beansprucht, und der explodierenden Weltbevölkerung,
2. zwischen den unrealistischen Vorstellungen vom Wirtschaftswachstum und den realen Wachstumsmöglichkeiten, und schließlich
3. zwischen dem explosiven technischen Fortschritt mit den entsprechenden Bildungsanforderungen an die Ausbildung der Bevölkerung und ihrer tatsächlichen Qualifikation, was einen unaufhaltsamen Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit in der Gesellschaft produziert. [67]
Dies alles hielt er für eine problematische Entwicklung und empfahl vor allem Investitionen in die Intelligenz, d.h. in Ausbildung, Bildung, Lehre und Forschung, die unsere Fähigkeit steigern soll, mit den angehenden Problemen fertig zu werden, sowie mehr eigenständiges Handeln. Das stellt insofern nichts Neues dar, als die Forderung nach Investition in Bildung und Eigenverantwortung immer wieder genannt wird. Wie schon viele vor ihm empfahl auch Miegel zur Beseitigung dieser Mißverhältnisse mehr Eigenverantwortung der Bürger in vielen Bereichen, wie z.B. private Altersvorsorge neben steuerfinanzierter Grundsicherung, eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens im Sinne von mehr Selbstverantwortung für eigene Gesundheit, eine Pflegeversicherung auf Kapitalbasis, Begrenzung der Arbeitslosenversicherung usw. [68] Für Reinhard Sprenger, der zwar zu Recht die ständige staatliche Bevormundung beklagt und Deutschland als einen „Club der Opfer“ bezeichnet, stellt die „Selbstverantwortung“ (mit schwammigen neoliberalen Pauschalvorschlägen) fast das einzige allgemeine Allheilmittel dar. [69] Auch in den Empfehlungen des Frankfurter Instituts sowie des Wissenschaftszentrums kamen solche Vorschläge zum Ausdruck.
Offensichtlich glaubte man um die Jahrhundertwende, eine allgemeine Einschränkung (vor allem der Ansprüche und staatlicher Ausgaben) und Verschiebung der Verantwortung auf den Einzelnen seien das richtige Mittel gegen die Auswüchse des verschwenderischen und bevormundenden Sozialstaats. Arnulf Baring begnügt sich in seinem Buch von 1997, in dem er die Probleme Deutschlands dieser Zeit auflistet, [70] mit wenig aussagekräftigen Appellen an Eigenverantwortung und Umkehrbereitschaft. Der Historiker Ulrich Bernd ruft im selben Jahr ebenfalls zur Umkehr , aber nicht im Sinne von Liberalisierung und Individualisierung, sondern als einer „Wende zum Weniger“. Seiner Meinung nach waren die letzten 50 Jahre ein historischer Ausnahmezustand des allgemein wachsenden Wohlstands, der jetzt zu Ende ist. Es gilt nun die Erwartungen der Politik (etwa in bezug auf „soziale Gerechtigkeit“) und unzeitgemäße Ansprüche zurückzuschrauben. [71] Wie diese Wende konkret zu verwirklichen ist, bleibt nichtsdestoweniger unklar. Das Fragliche an dieser Programmatik, die oft mit Schlagworten wie „Modernisierung“ und „Privatisierung“ (oder auch Flexibilität, Mobilität, Dynamik, Innovation und Deregulierung) einhergeht, ist überhaupt ihre zuweilen geringe Konkretheit und Abstrahierung von den bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die das an sich vernünftige Anliegen manchmal in sein Gegenteil verkehren. So hat man schließlich im Namen der ungeklärten „Eigenverantwortung“ allmählich viele Sicherheiten und Rechtsansprüche des Sozialstaats beseitigt und in mehreren Bereichen (vor allem dem Arbeitsmarkt) teilweise amerikanische Verhältnisse [72] geschaffen, ohne jedoch die amerikanischen Möglichkeiten zu besitzen.
Überdies wurde in der Kritik die Rolle der demographischen Entwicklung als einer der grundlegenden Aspekte des gesellschaftlichen Wandels und die „Alterung der Gesellschaft“ vermutlich überschätzt. Die Horrorszenarien (ausgestorbene Städte, leerstehende Wohnungen, leere Kinderkliniken und Schulen usw.) [73] mit begleitenden statistischen Schätzungen, wie viele Rentner zu welcher Zeit von einem ökonomisch Aktiven unterhalten werden müssen, wenn der Trend zur Kinderlosigkeit anhält, bieten ein überzogenes, auf dieses eine Aspekt reduziertes Zukunftsbild. Der Journalist Frank Schirrmacher schrieb 2004 ein populäres Buch über das Altwerden der Gesellschaft, in dem dieser Trend so aufgebauscht wird, als stehe uns ein „Krieg der Generationen“ bevor. [74] Der sozialdemokratische Kritiker des Neoliberalismus Albrecht Müller meinte dagegen, die negativen Darstellungen und bedrohlichen Szenarien, beispielsweise in bezug auf die „demographische Katastrophe“ seien nicht nur überzogen, sondern beruhen auf eiskalten Lügen und falschen Annahmen mit dem Zweck, die soziale Gerechtigkeit auszuhebeln. Der von der politischen Klasse als Rettung präsentierte Reformpaket enthalte in Wirklichkeit nur leere Versprechungen und werde katastrophale Folgen haben. [75] In seinem nächsten Buch Machtwahn (2006) behauptet er, daß die Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik – ein Netzwerk mittelmäßiger Eliten – mit ihren Reformen gewachsene Strukturen des Sozialstaats rücksichtslos zerstören, um eine Wirtschaft ohne Regeln durchzusetzen, und damit das Land zugrunde richten. In seinem weiteren Buch Meinungsmache (2009) beschreibt er schließlich, wie mittels systematisch inszenierter Kampagnen die öffentliche Meinung (hinter der sich oft mächtige Interessen verbergen) beeinflußt wird. [76] Trotz aller Vorurteile, die man bei vielen traditionellen Sozialisten findet, scheint die Kritik der auf neoliberalen Pauschalrezepten beruhenden Pseudoreformen durchaus berechtigt.
Jedenfalls ist der Trend zur Bevölkerungsabnahme in Wohlstandsländern in fortgeschrittenem Stadium ganz normal und nicht unbedingt bedrohlich. Gefährlich scheint vielmehr das Gegenteil davon – die Überbevölkerung, in deren Züge (zwecks Abbau des Überschusses) immer wieder Kriege und Bürgerkriege ausbrechen und Genozide geschehen, wie es zum Beispiel der Völkermordforscher Gunnar Heinsohn zu zeigen versucht. Die Problematisierung des Bevölkerungsrückgangs geht von einer veralteten Vorstellung einer arbeitsintensiven Volkswirtschaft aus, in der die Alten aufgrund fehlender Kinder und Enkel nicht ernährt werden können. Diese Betrachtungsweise berücksichtigt dabei weder die Tatsache, daß das Sozialprodukt und damit die Wohlfahrt der Gesellschaft mit einer kapitalintensiven Wirtschaftsform durch den Rationalisierungstrend immer weniger vom Faktor Arbeit abhängig ist, noch den Umstand, daß gegenwärtig nur mehr wenige hochspezialisierte Fachkräfte eine Beschäftigung finden. Jede Produktionsinnovation steigert nicht nur die Produktivität der Arbeit [77], sondern stellt Arbeitskräfte frei; eine Produktivitätssteigerung, welcher Form auch immer, produziert somit zwangsläufig immer wieder Massenarbeitslosigkeit, die nur sehr schwer und meistens erst durch andere gesellschaftliche Änderungen langfristig aufgefangen werden kann. Das bedeutet bei gleichbleibenden gesellschaftlichen Bedingungen, daß diese angeblich „fehlenden Kinder“ keine künftigen Steuer- und Rentenzahler, sondern ebenfalls zu finanzierenden Arbeitslosen bzw. Sozialhilfeempfänger darstellen.
Mit dieser Entwicklung hängt auch ein anderer bedenklicher gesellschaftlicher Wandel zusammen, der in der liberalen Kritik jedoch kaum oder nach einem schiefen Erklärungsmuster thematisiert wird: die Entstehung neuer Armut [78] und eine wachsende Polarisierung zwischen Arm und Reich mit den damit verbundenen desintegrativen Tendenzen in der Gesellschaft, also das Gegenteil zum Trend, den manche Soziologen in den 60er Jahren als Tendenz zur „nivellierenden Mittelstandsgesellschaft“ zu beobachten meinten. [79] Die Studien zur sog. „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ aus den Jahren 2002-2004 haben dagegen eine desintegrative Tendenz in der Gesellschaft festgestellt, die durch Polarisierung zwischen Arm und Reich, zunehmende Arbeitslosigkeit und die negative Wahrnehmung der eigenen Lage verursacht wird und mit der steigenden Neigung zur sozialaggressiven Haltungen wie Rassismus, Ausländerhaß, Antisemitismus usw. einhergeht. [80] Diese desintegrativen Tendenzen (politische Kontrollverluste, ungerichtete gesellschaftliche Prozesse und Unbeeinflußbarkeit ökonomischer Entwicklungen) und ihre negative Wahrnehmung (soziale Unsicherheit, Gefühl der Orientierungslosigkeit) bezeichnete Wilhelm Heitmeyer als „Verstörungen“, aus denen sich menschenfeindliche Verhaltensweisen, Druck auf Minderheiten und die Neigung, schwache Gruppen abzuwerten, als Normalität entwickeln. [81]
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