Einige Jahre später faßte Wernhard Möschel in einem Aufsatz alle Systemfehler des ausufernden Sozialstaats zusammen: Das Wort „sozial“ werde inflationär gebraucht, die Sozialpolitik sei aus der ursprünglichen Hilfe für Bedürftige zum bewußt eingesetzten Lenkungsmittel und der Sozialstaat zum „sozialen Obrigkeitsstaat“ , ja einem „sozialen Überforderungsstaat“ geworden. Die praktizierte Sozialpolitik sei unmäßig und kontraproduktiv, und zwar in Bereichen wie dem Versicherungswesen, dem Agragsektor, dem sozialen Wohnungsbau, aber auch im Gesundheitswesen, beim Ladenschlußgesetz wie bei der Vermögungsbildungsförderung. Sie berücksichtigt nach Möschels Ansicht keine ökonomische Verhältnismäßigkeit und wälzt Nebenwirkungen und Kosten auf Dritte ab. Der Größenmaßstab des Anteils sozialer Leistungen am Bruttosozialprodukt, der Belastung der Einkommen und der Kostenexplosion vor allem in der Rentenfinanzierung und im Gesundheitswesen schien ihm schon damals an seine Grenze gekommen zu sein. Überdies hielt er das soziale Anliegen auch vom moralischen Gesichtspunkt für zweifelhaft, da es mit dem Schutz bestimmter Gruppen (der Arbeitnehmer) zugleich die Chancen anderer (der Arbeitslosen) versperre. [23]
Um all diese verschwenderische und kontraproduktive Politik zu rechtfertigen, wurde die gesamte hergebrachte sozialethische Terminologie auf den Kopf gestellt, Begriffe wie Freiheit, Solidarität, Menschenwürde u.a. umgedeutet, der Sozialstaat zu einem fast religiösen Begriff verklärt, stellte Gerd Habermann in einem Aufsatz von 1996 fest, in dem er für die Entmythologisierung des Sozialen sowie die Rückgabe sozialer Verantwortung an die Bürger plädierte. Der wohlfahrtsstaatliche Leviathan mit seinem Ideal des „Lebens aus einem Topf“ , also einer großen Solidarhaftung aller für alle und ständiger Ausweitung sozialer Zwangsversicherung in allen Bereichen, mache seine Bürger nicht nur nicht freier, sondern lasse an dem gewaltigen, unübersichtlichen und intransparenten Umverteilungs- und Versicherungssystem ganz andere Gruppen als die tatsächlich Hilfsbedürftigen profitieren: vor allem Berufspolitiker, Interessengruppen und die öffentlichen Bediensteten, denen die Umverteilung obliegt. „Das unübersichtlich und intransparent gewordene staatliche Wohlfahrtssystem scheint besonders Berufspolitikern zu nützen, die über die Austeilung von ‚sozialen Geschenken’ ihre Wahlkämpfe führen. Mittels Ausverkauf der Freiheit sichern sie sich ihre Macht.“ [24]
Dreißig Jahre nach dem beklagten Vordringen sozialistischer und dirigistischer Vorstellungen sieht dieses System, das über den Kommunismus im Kalten Krieg gesiegt hatte, nicht als eine Synthese von echter Marktordnung und staatlicher Sozialpolitik aus, sondern als ein von einer politischen Oligarchie regierter unersättlicher Leviathan. Die mit vielen Einschränkungen, regulierenden und intervenierenden Maßnahmen belastete Wirtschaft gilt ihm als Werkzeug verschiedener Interessen und Mittel zur Finanzierung anderer, weder freiheitlicher noch sozialer Ansprüche. Die Umformung des Sozialen zum Macht- und Herrschaftsinstrument des Staates , das auf altbekannten Säulen, nämlich Angst, Intransparenz und Solidaritätsappellen beruht, verfehlt zunehmend sein proklamiertes Ziel, die „soziale Gerechtigkeit“, äußerte später Meinhard Miegel. Der Sozialstaat habe die Gesellschaft, von der er lebt, entsolidarisiert, entmündigt und damit entwürdigt, deformiert und völlig ausgelaugt, bis er jetzt an die Grenzen deren Tragfähigkeit gelangt sei: Jahrzehntelang habe er keine Vorsorge getroffen, keine Zukunftsinvestitionen getätigt, sondern bloße Umverteilung betrieben. Mit Täuschung, Betrug und Illusionstheater, insbesondere durch die Illusion eines „Wohlstands auf Pump“ , der nur durch stets zunehmende Schuldenberge finanziert wird, sucht er seine Herrschaft weiter aufrechtzuerhalten. [25]
Der so gepriesene deutsche Sozialstaat erscheint angesichts all dieser Tatsachen in einem ganz anderen Licht, nämlich als ein verschwenderisches System, von dem vor allem große organisierte Interessen, Berufspolitiker, Staatsdiener und die angeschlossene Hilfeindustrie profitieren, der aber die Lebensgrundlagen der Gesellschaft auf Kosten der Zukunft verzehrt. Der parasitäre Charakter dieser nur vermeintlich „sozialen“ Hilfeleistungen ist bezeichnend für viele Bereiche der Gesellschaft. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß inzwischen fast alle grundlegenden gesellschaftlichen Sphären, der Arbeitsmarkt und alle sozialen Systeme (das Renten- und Gesundheitswesen), die Infrastruktur, die Umwelt und die Bildung bis zur Kriminalitäts- und Gewaltbekämpfung von dieser Entwicklungstendenz betroffen sind. Dieser Trend hat zur Folge, daß sich überall eine überdimensionierte „Hilfeindustrie“ etablierte, die ihre ursprünglich sinnvolle Funktion nach und nach durch eine selbstbezogene Scheinhilfe als Selbstzweck ersetzt. Die Struktur dieser Inanspruchnahme bestimmter gesellschaftlicher Funktionen ist mit der eines Tumors vergleichbar, der für sein eigenes Wachstum die Funktion gesunder Zellen und Organe so lange unterbindet, bis der ganze Organismus zugrunde geht. So wurde jedenfalls die Situation um die Jahrhundertwende seitens der Kritik gesehen und daraus auf eine gerundlegende Reformierung des ganzen Systems geschlossen. Die Frage ist allerdings, ob die seitdem vorgenommenen Reformen auch die richtigen Heilmittel waren, d.h. ob sie die diagnostizierte Krankheit tatsächlich behandelt oder eher verschlimmert haben.
1.1. Die Krise des Sozialstaats und der Tanz auf der „Titanic“
Die sich ständig verschlechternde Situation in mehreren sozialen Bereichen war also gut bekannt, wurde jedoch verdrängt. Immer heftigere Kritik an sorgloser Politik kam seit den 80er Jahren vor allem von Wirtschaftswissenschaftlern. So wies beispielsweise das Frankfurter Institut für wirtschaftspolitische Forschung seit 1983 in mehreren Publikationen auf die Gefahren des sehr verbreiteten kurzsichtigen, engstirnigen und punktuellen Denkens in der Politik hin, das allmählich auch das einzelwirtschaftliche Denken und Handeln korrumpiert und fehlgeleitet habe: Nebenwirkungen und langfristige Folgen von politischen Entscheidungen wurden ausgeblendet oder verdrängt, überfällige Korrekturen hinausgezögert und Illusionen über die Tragfähigkeit staatlicher Finanzen geschürt. Durch Mängel im Bildungswesen und die Behinderung von Forschung und Entwicklung wurden ungünstige Bedingungen geschaffen, durch Preisinterventionen, ein unzweckmäßiges Steuersystem, desorganisierte Mietwohnungsmärkte, brüchige Renten-, Pflege- und Krankenversicherungssysteme und eine Flut von Gesetzen, Verordnungen, Reglementierungen, Wettbewerbsbeschränkungen, strukturkonservierenden Subventionen u.ä. die Wirtschaft verwirrt und gelähmt, private Initiative fehlgelenkt. Die Folgen waren Vernachlässigung von Investitionen in die Infrastruktur zugunsten von Konsumausgaben, vor allem Sozialleistungen und Subventionen, und deren Finanzierung durch immer höhere Neuverschuldung, d.h. Verlagerung von Lasten auf kommende Generationen . [26] Kritisiert wurden also vor allem die kontraproduktive Förderungs- und Reglementierungspolitik, die Tendenz zur Bürokratisierung und Verrechtlichung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes, die Kostenexpansion der Staatsausgaben und der sozialen Versicherungssysteme sowie auch die moralische Zweifelhaftigkeit von vermeintlich sozialen Zielsetzungen in der Praxis. Die Empfehlungen des Instituts waren 1994, die Fehlentwicklung dieses verkürzten Zeithorizonts und dessen Folgen allgemein bewußt zu machen, eine Übertragung von Entscheidungsfreiheiten auf private Unternehmen und Haushalte, die Einführung institutioneller Stabilisierungsfaktoren (wie es z.B. die Bundesbank vor der Einführung des Euro war) sowie die Überprüfung aller Gesetzesvorlagen im Hinblick auf ihre Neben- und Fernwirkungen in der Zukunft. Sie wurden allerdings nie befolgt.
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