Einohr verstand sich wie kaum ein anderer Ork darauf, Verantwortung zu delegieren. Nicht, weil er auf die Fähigkeiten anderer vertraute, sondern weil er so die Schuld abwälzen konnte, wenn nicht alles nach dem Wunsch des Gebieters verlief. So, wie es vor zwei Jahren bei der Faust geschehen war. Einohr hatte nur durch seine Erfahrung und Schläue überlebt und war unendlich erleichtert, dass der Herrscher ihm keine Schuld an dem Desaster gab. Das Spitzohr schrieb dies einer gewissen Naivität des Allerhöchsten zu. Er mochte ein überaus mächtiges Wesen sein, doch sein Handeln war oft unerklärlich und, zumindest in Einohrs Augen, keineswegs immer klug. Andererseits verfügte ein unsterbliches Wesen vielleicht auch über Wissen, welches einem Spitzohr verborgen blieb.
Einohr schien ganz in Gedanken versunken und reagierte kaum auf die Respektbezeugung der Wache, während er an ihrer Front entlangschritt und mit düsterer Miene zum Eingang des Turms blickte, wo ihn einer der wenigen überlebenden Grauen erwartete.
Auf die Entfernung hatte man den Eindruck, als stehe dort ein ungewöhnlich großer Menschenmann, eingehüllt in eine lange rote Robe, deren Kapuze den Kopf verbarg. Das Gesicht lag tief im Schatten. Doch sobald sich die Gestalt bewegte, war ihre Andersartigkeit offensichtlich. Dann wurde der Schwanz eines schuppigen Reptils sichtbar.
Einohr waren die Grauen Wesen, wie man die Magier des Allerhöchsten nannte, stets unheimlich und bedrohlich vorgekommen und diese Empfindungen teilte er wohl mit nahezu allen Wesen im Reich der Orks. Diese Kreaturen beherrschten mächtige Zauber und konnten ihre Gestalt verändern. Der Schwarze Lord hatte sie immer als seine direkten Stellvertreter in den Bruthöhlen und den Legionsfestungen eingesetzt. Doch all ihre Macht hatte die langlebigen Grauen nicht vor einem gewaltsamen Tod bewahren können.
Der kleine Legionsoberführer kannte das Wesen, welches sein Antlitz noch vor ihm verhüllte. Es war Bar´Ses, das einzige Graue Wesen, welches die katastrophale Zerstörung der Faust überlebt hatte. Nun griff es mit den krallenbewehrten Händen an die Kapuze und schlug sie zurück. Der schlanke Schädel mit der lang gestreckten Schnauze wurde sichtbar. Grünbraun gesprenkelte Schuppen bedeckten den Leib. In den gelben Augen schimmerten schwarze geschlitzte Pupillen. Bar´Ses war stets der Mächtigste der Grauen gewesen und galt als Augen und Ohren des Schwarzen Lords. Einohr wusste aus Erfahrung, dass ihm der gefährliche Reptilier nicht wohlgesinnt war.
„Er erwartet uns“, sagte Bar´Ses mit dem typischen leichten Zischen in seiner Stimme anstelle einer formellen Begrüßung. „Er ist ungeduldig.“
„Er ist immer ungeduldig“, murrte Einohr. Darin lag verborgene Kritik am allerhöchsten Gebieter, doch dem schlauen Legionsoberführer war sehr wohl aufgefallen, dass Bar´Ses ganz offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Scheinbar scheute sich der Magier davor, alleine vor den Herrscher zu treten, und dies zeigte an, dass das Graue Wesen unsicher und sogar verletzlich war. Einohr hatte in all den Jahren seines Aufstiegs ein Gespür für solche Dinge entwickelt.
Sie traten in den Eingang und fanden sich übergangslos in einem Raum wieder, der zweifellos innerhalb der Kugel, an der Spitze des Turms, lag. Beide kannten dieses Phänomen inzwischen und hatten aufgegeben, darüber nachzudenken, welche Magie damit verbunden sein mochte. Der Turm von Antas-Nataar war das ureigene Refugium des Gebieters und würde wohl so manches Geheimnis seines Herrn bewahren.
Die runde Wand, wenn man sie denn so nennen mochte, schien aus einer einzigen Scheibe Klarstein zu bestehen und bot einen außergewöhnlichen Ausblick über das Herrschaftsgebiet des Allerhöchsten. Aus dieser Höhe konnte man das Meer sehen und ebenso die Ausläufer der Gebirge des Uma´Roll und des Noren-Brak. Bei solch einem Blick verloren sich die Details, doch der Gesamteindruck war atemberaubend. Einohr mied die Nähe des Klarsteins, denn wenn er in die Tiefe sah, so empfand er schieres Entsetzen und ihm wurde schwindlig. Er war dankbar für den festen Boden unter seinen Füßen.
Die Einrichtung des sehr großen Raumes war karg: ein paar farbige Säulen aus Kristall, ein Tisch aus feinstem Klarstein und ein paar filigrane Sitzmöbel, die, in ihrer feinen Ausführung und Schnitzkunst, an die Arbeiten des elfischen Volkes erinnerten. Diese hölzernen Möbel und ein frei stehendes Regal waren die einzigen Gegenstände, die für Einohr vertraut wirkten.
In der Mitte befand sich die große Karte. Sie bestand aus einem riesigen Tisch von sechseckiger Grundform, auf dem alle bekannten Örtlichkeiten und geografischen Gegebenheiten sorgfältig modelliert worden waren.
Hier stand der Schwarze Lord.
Er hatte die äußerliche Form eines Menschenmannes und auch dessen Größe, doch davon ließ Einohr sich nicht täuschen. Die Gestalt schien von den Stiefeln bis zu ihrem Helm aus schwarzem Kristall zu bestehen. Die Oberfläche schimmerte seidig und war vollkommen glatt und doch erkannte man jede Falte oder Naht der Bekleidung. Auch das Gesicht und die Augen waren schwarz, wobei Letztere ein furchteinflößendes Funkeln erkennen ließen. Es erinnerte ein wenig an den Anblick des nächtlichen Sternenhimmels und wer in diesen hineinsah, drohte darin zu versinken. Manchmal wechselten die Augen ihre Farbe und niemand vermochte wirklich zu deuten, ob dies die Stimmung des Herrschers widerspiegelte.
Der Schwarze Lord stand über den Kartentisch gebeugt. Einohr und Bar´Ses fühlten sich gleichermaßen unsicher, ob sie sich bemerkbar machen sollten. Sicher hatte das übermächtige Wesen sie ohnehin längst bemerkt, doch im Augenblick galten seine Gedanken wohl anderen Dingen und so war es angemessen, abzuwarten, bis sich der Gebieter ihnen zuwandte.
„Gemessen an seiner Bedeutung wirkt seine Gestalt so menschlich und klein“, raunte Bar´Ses.
„Lass dich dadurch nicht täuschen, Graues Wesen.“ Einohr leckte sich nervös über die Lefzen. „Einst besuchte der Herrscher die Festung von Cantarim und seine Gestalt ragte in der Ferne gut zehn Längen auf. Ein Gigant, der erst zu normaler Größe schrumpfte, als er uns wartenden Legionären immer näher kam. Ich kann dir sagen, dass es ein furchteinflößender Anblick war. Selbst von den tapferen Rundohren sind manche in Ohnmacht gefallen.“
Bar´Ses sah ihn an und verzog seine schmalen Lippen zu einem Lächeln. „Und wie erging es den weit weniger tapferen Spitzohren?“
„Ich fiel jedenfalls nicht in Ohnmacht“, erwiderte Einohr triumphierend und verschwieg dem Magier wohlweislich, dass er damals vor Entsetzen unter sich gemacht hatte.
„Ich war selbst in Cantarim dabei“, knurrte der Reptilier. „Damals war ich dort Brutmeister und auch für die Waffenschmiede verantwortlich.“ Er lächelte kalt. „Du musst das noch sehr gut wissen, nicht wahr?“
„Die Ferntöter, ja“, murmelte Einohr. Er wurde nicht gerne an dieses Kapitel seiner Geschichte erinnert.
Vor vielen Jahren war Einohr der Kommandeur der neuen Ferntöter, die man in der Festung Cantarim baute. Damals hatte noch der verhasste Fangschlag den Posten des Legionsoberführers innegehabt. Es herrschte großer Mangel an Eisenerz, denn es war die Zeit vor dem großen Erderzittern, welches die neuen Erzadern an die Oberfläche gehoben hatte. In jenen Tagen versprach die nördliche Öde des einstigen Menschenreiches Rushaan stattliche Beute und der Allerhöchste wollte seine Legionen entsenden, um sich die Rohstoffe zu sichern und auch einen neuen Weg ins Reich der freien Völker zu erkunden. Doch die Öde war nicht so herrenlos gewesen, wie man glaubte. Die Paladine Rushaans und das verfluchte Pferdevolk waren über die Legionen hergefallen und die verdammten Zwerge hatten ebenfalls noch mitgemischt. Die Legionen waren vernichtet worden und Einohr hatte nur mit Mühe entwischen können. Er war klug genug gewesen, die Batterie seiner Ferntöter und ein paar Kohorten der Rundohren, die sie schützten, den Pferdelords zum Fraß vorzuwerfen. Das verschaffte ihm die Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, und zugleich die Feindschaft Fangschlags. Das Rundohr war von den Menschen gefangen worden und kämpfte nun an deren Seite. Einohr wusste nur zu gut, was den Abtrünnigen antrieb – der innige Wunsch, ihn zu töten. Als die Faust vernichtet wurde, wäre es dem Rundohr beinahe gelungen und Einohr war wieder einmal nur mit knapper Not entkommen.
Читать дальше