Doch dieser ließ auf sich warten.
Den kleinen Spitzohren der Orks, die nicht gerade für ihre Tapferkeit gerühmt wurden, war dies nur recht, doch bei ihren großen Brüdern, den Rundohren, wuchs die Ungeduld, sich endlich bewähren und einen Namen machen zu können.
Doch der Befehl kam nicht.
So lag eine immense Anspannung über den Legionen. Aller Blicke waren gen Antas-Nataar gerichtet, jenem Ort, an dem der Schwarze Lord über alles gebot.
Der schwarze Turm von Antas-Nataar lag im Zentrum des Reiches, dort, wo die fruchtbare Ebene von Ciritharn begann. Es war ein mächtiges Bauwerk, welches zu unglaublicher Höhe aufragte und dessen Silhouette von Weitem zu erkennen war. Das Gebilde bestand aus glattem grauem Stein, der von feinen weißen Adern durchzogen schien, und verdankte seine Bezeichnung „schwarzer Turm“ ausschließlich der Tatsache, dass hier der Schwarze Lord residierte. Der Turm besaß die Form eines spitzen Kegels, der mit der Basis auf dem Boden stand und sich nach oben zu einer schlanken Nadel verjüngte. Diese wurde von einer Kugel gekrönt. Teile des Magierturms waren mit fremdartigen Symbolen verziert, die sich in einem intensiven Blau vom Mauerwerk abhoben.
Vor zwei Jahren war die feuerwerfende Faust des Allerhöchsten durch einen wagemutigen Angriff des Pferdevolkes vernichtet worden. Viele der Grauen Wesen, deren magische Kräfte dem Schwarzen Lord dienten, waren damals umgekommen. Jene hatten auch den Turm bewacht und nun, da es nur noch wenige von ihnen gab, waren einige Kohorten der Rundohren an ihre Stelle getreten. Die unmittelbare Nähe des Herrschers bereitete selbst diesen tapferen Kriegern Unbehagen, umso mehr, da ihnen zugleich der Gestank des „Grünzeugs“ in die Nase stieg. Der Turm von Antas-Nataar befand sich inmitten einer parkähnlichen Anlage, deren Harmonie und betäubende Düfte Übelkeit bei den Orks hervorriefen. Viele versuchten sich zu schützen, indem sie ihre Geruchsöffnungen mit allerlei Hilfsmitteln verstopften.
Die Rundohren gehörten zu den Eisenbrüsten, welche die neuen Rüstungen trugen. Harnische, die nach vorne die Form eines spitzen Keils aufwiesen und an denen ein frontaler Stoß und auch jedes Geschoss abprallen musste. Die Panzerungen waren schwer und unhandlich und doch trugen die Legionäre sie mit Stolz. Während es den kleinen Spitzohren zur gefährlichen Pflicht gehörte, dem Allerhöchsten zu dienen, war es für die Kämpfer der Rundohren auch eine Frage ihrer Ehre. Seit die ersten Exemplare der beiden so verschiedenen Ork-Arten aus ihren Brutbeuteln geschlüpft waren, gab es Rivalität zwischen ihnen. Die Rundohren verachteten die Feigheit der Spitzohren, welche diese hingegen als kluge Zurückhaltung und Überlebensstrategie erachteten.
So tat sich die Ehrenwache am Turm noch immer schwer damit, zu begreifen, dass vor Jahren ausgerechnet eines der Spitzohren den Aufstieg zum Legionsoberführer geschafft hatte. Ein Spitzohr, und zudem eines, dessen Ruf unter den Rundohren noch weitaus schlechter als ohnehin üblich war. Zusätzlich erboste es sie, dass diese schmächtige Kreatur eine Rüstung trug, welche jener der Rundohren nachempfunden war. Für die Krieger symbolisierte Einohr, wie besagtes Spitzohr hieß, ein Subjekt ihres nur mühsam unterdrückten Hasses, die anderen seiner Art sahen in ihm hingegen ein Zeichen des Triumphes, denn die mächtigen Kämpfer mussten einem der Ihren Respekt zollen.
Im Augenblick schritt besagter Einohr den mit Steinplatten ausgelegten Weg entlang, der von der nahen Siedlung durch den Park hindurch zum Eingang des schwarzen Turms führte. Der Legionsoberführer trug seine auf Hochglanz polierte Rüstung und den Helm mit den drei grellroten Querkämmen, die seinen hohen Rang verdeutlichten. An der Seite hing die Nachbildung eines Schlagschwertes der Rundohren, in Größe und Gewicht dem Spitzohr angepasst. Im Gegensatz zu den Kriegern, deren metallene Kampfstiefel die Zehen frei ließen, trug Einohr allerdings weiche Lederstiefel, wie sie bei seiner Art beliebt waren.
„Ich sage dir, eine lange Phase der Finsternis und eine stille Ecke, und ich schlachte dieses aufgeblasene Spitzohr“, knurrte eine der Wachen, deren rötlich gelbe Augen unter dem Helm kaum zu erkennen waren. „Er hat uns mehr tapfere Rundohren gekostet als alle Kämpfe gegen das Pferdevolk.“
„Er versteht sich darauf, zu überleben“, stimmte der andere zu. „Auf Kosten anderer.“
„Ihm ist es gleich, wie viele unserer Kämpfer sterben, Hauptsache, er selbst bleibt am Leben.“
„Auch darin stimme ich dir zu. Er ist eine nutzlose Made und sollte in den Nährschlamm der Bruthöhlen wandern.“ Die zweite Wache fingerte an ihrem Schlagschwert. „Aber der Allerhöchste wird seinen Grund haben, ausgerechnet diese Kreatur zum Oberbefehlshaber erwählt zu haben.“
„Er hat in der Öde von Rushaan versagt und unsere Legionen ins Verderben geführt. Und zuvor ließ er bei der Schlacht von Merdonan seine Legion im Stich, um seine Haut zu retten.“
Der Wachführer der kleinen Gruppe kam heran. Er hatte die letzten Worte gehört, warf einen kurzen Blick zu Einohr, um abzuschätzen, ob die empfindlichen Ohren des Spitzohrs seine Worte wohl vernehmen konnten, und kam zu der beruhigenden Feststellung, dass dies noch nicht der Fall war. „Ich verlor Krieger aus meinem Wurf in der Winterschlacht bei Merdoret. Damals wollte Einohr gegen den Abtrünnigen Fangschlag im Zweikampf antreten und versuchte seine Chancen zu erhöhen, indem er Fangschlag vergiften ließ. Ja, ihr habt recht, Legionäre, es ist eine Schande, diesem Wesen gehorchen zu müssen, doch es ist der Wille des Allerhöchsten. Er lenkt unsere Geschicke seit vielen Jahrtausendwenden und weiß, was zu tun ist.“
„Der Plan“, knurrte eine Wache. „Der lange Plan.“ Der Ork spuckte angewidert aus. „In jeder Legion gibt es Gerüchte über den langen Plan … Bah, unsere Legionen werden immer zahlreicher, wir haben neue Rüstungen und in den Schmieden von Rumak ersinnt man neue Waffen ... Wozu das alles? Wir sind bereit und dem Feind weit überlegen. Worauf wartet der Allerhöchste noch?“
„Halte die Zunge zwischen deinen Lefzen!“, zischte der Wachführer. „Es steht uns nicht zu, die Entscheidungen des Schwarzen Lords infrage zu stellen. Wir folgen seinen Befehlen, das ist der Zweck unseres Daseins. Und nun nehmt Haltung an, der Legionsoberführer ist fast heran.“
Mochten sie Einohr auch verachten, so respektierten sie doch den Rang, den er innehatte. Die Halbkohorte bildete eine perfekte Doppelreihe, das rechte Bein wurde leicht angewinkelt und dann in perfektem Gleichmaß mit dem Fuß auf die Erde gestampft. Gleichzeitig glitten die Schlagschwerter quer vor die Brust. Der Wachführer schlug dröhnend gegen seinen Harnisch und senkte kurz den Kopf.
Einohr, Herr über alle Legionen, wenigstens solange er dem Willen des Allerhöchsten gehorchte, genoss den ihm erwiesenen Respekt. Er war nicht nur verschlagen, sondern auch klug genug, um die wahren Gefühle der Rundohren zu kennen. Lange Jahre hatte er sich unter ihnen ducken müssen, hatte intrigiert und gemordet, um sich allmählich emporzuarbeiten, indem er die Fehler anderer hervorhob und seine eigenen schmälerte. Der Fügung des Schicksals hatte er seinen Aufstieg zu verdanken. Zum Legionsführer und schließlich zum Legionsoberführer. Ein Rang, an den kein anderes Spitzohr zu denken wagte und um den man ihn beneidete. Ja, er wusste, dass er nicht beliebt war und dass die Rundohren darauf hofften, er werde einen baldigen und möglichst qualvollen Tod erleiden, aber der Schwarze Lord hielt seine schützende Hand über ihn.
So mächtig dieser Schutz auch sein mochte, so besaß er dennoch seine Schattenseite. Einohr zählte nicht zu den gewöhnlichen Legionären, die in der Masse der anderen nicht auffielen, sondern er stand im direkten Blickfeld des Herrschers. Eines Wesens, welches nicht für seine Langmut bekannt war und das grausame Strafen kannte. Seitdem der Allerhöchste den größten Teil seiner grauen Magier eingebüßt hatte, war Einohr sich der verstärkten Aufmerksamkeit des Schwarzen Lords gewiss. Jeder Besuch in dessen Turm erfüllte den Legionsoberführer mit nagenden Zweifeln. Welchen Grund gab es für die Aufforderung, heute nach Antas-Nataar zu kommen? Wartete ein neuer gefährlicher Auftrag auf ihn oder war er gar in Ungnade gefallen?
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