„Also ist der Zeitpunkt eher ungewiss“, knurrte Mor enttäuscht. „Das wird dem Volk nicht gefallen und die Ungewissheit und Furcht schüren.“
„Bevor sich die Schiffe nicht der Vollendung nähern, können die Wanderungen nicht beginnen“, sagte Venval entschieden. „Die Provinzen Alnoas wären nicht in der Lage, all die Mägen über einen längeren Zeitraum zu füllen.“
Hitzige Worte und die verschiedensten Standpunkte wurden ausgetauscht, doch an den Tatsachen ließ sich nicht rütteln. Im Grunde waren sich die Anwesenden einig, doch um aus den bisherigen Zustimmungen und groben Gedanken einen genaueren Plan zu formen, benötigten sie drei volle Tage und es gab nur wenige Ruhepausen. Der Stolz der Herrscher ließ nicht zu, dass ihre Völker als Bittsteller zu den Schiffen gelangten, was nicht unbedingt für die Lebewesen in ihren Reichen gelten musste. So entzündete sich plötzlich manche Debatte an Kleinigkeiten, bis endlich auch die letzte Klinge zustimmend auf den Boden stieß.
Man merkte selbst Marnalf die Erschöpfung an, als er in den Kreis der Versammelten trat und sich auf seinen Knotenstab stützte. „Unser Plan gleicht einem Netz aus Handelsstraßen, die es nun mit Leben zu erfüllen gilt. Ein jeder muss seine Aufgabe erfüllen und dabei seiner eigenen Straße folgen, bis sie ihn und sein Volk nach Mintris führt. Sagt euren Völkern die Wahrheit. Wir könnten sie nicht verborgen halten. Wenn wir es versuchten und sie davon erführen, so würde das Vertrauen schwinden. Doch das Vertrauen und die Kraft unserer Gemeinschaft sind die Grundlage, dass es für uns alle Hoffnung gibt.“
„Eines steht fest“, seufzte König Reyodem. „Wenn die Wanderungen beginnen und der Schwarze Lord dann zum Sturm ansetzt, so wird es ein blutiges Rennen zu den Schiffen geben.“
Wenn man sich dem Berg vom Land her näherte, wirkte er wie ein flacher Kegel, dessen Oberteil man abgetrennt hatte. Das Gestein wies die verschiedensten Schattierungen von Schwarz über Grau bis Braun auf, war scharfkantig und stieg vom Fuß des Berges immer steiler an. Oben, auf dem Rand des Kraters, erhob sich in strahlendem Weiß das typische glatte Mauerwerk menschlicher Baukunst. Eine hohe und massive Wehrmauer, die sich um den gesamten Krater herum zog, unterbrochen von achteckigen Türmen mit Plattformen, auf denen schwere Dampfkanonen standen. An der nordwestlichen Seite hatte das Beben vor einigen Jahren schwere Schäden angerichtet. Dort waren Türme und Mauerteil ausgebessert worden und der Stein unterschied sich ein wenig von dem der anderen Abschnitte.
Überragt wurde diese Anlage von dem gewaltigen Turm, der sich inmitten des Kratersees auf einer Insel erhob. In seiner Größe wirkte er trotz seines Durchmessers schlank und filigran, unterbrochen von zierlich wirkenden Balkonen und Brüstungen, bis die Spitze des Turms in der Plattform endete, auf der sich die Signalstation befand. Er war von Gebäuden und Grünflächen umgeben. Hier wirkten König und Kronrat des Reiches von Alnoa. Geschwungene Brücken führten über den großen Kratersee hinweg zu seinem Rand.
Die Häuser der Stadt folgten dem Verlauf der Kraterwände, zogen sich ringförmig herum und stiegen immer höher an, sodass die Stadt ein wenig den Eindruck vermittelte, die Häuser seien Zuschauer eines riesigen Amphitheaters, dessen Bühne der Königspalast bildete. Auch hier waren die Spuren unübersehbar, die das Beben hinterlassen hatte. Ein ganzes Stadtviertel war mit der Kraterwand herabgerutscht und Gebäude und Menschen waren in den Tod gerissen worden. Noch immer lagen sterbliche Überreste zwischen den Trümmern unten im Hafenbecken, denn die Bergung und der Wiederaufbau gingen nur langsam voran und gestalteten sich aufgrund der Tiefe des Kratersees teilweise sehr schwierig.
Es gab nur einen Zugang zur Stadt: dort, wo einst ein Teil der Kraterwand eingestürzt war und nun die Verbindung des Sees mit dem Meer ermöglichte. Schwere Tore und mächtige Batterien schützten die breite Straße und die Zufahrt des Hafens von Alneris. Der Fluss Genda verband die Stadt mit dem offenen Meer und der Hafenstadt Gendaneris. Seit dem Seefrieden mit den Schwärmen der See blühte der Handel mit anderen Völkern, doch in Alneris war dies nur indirekt zu bemerken. Der begrenzte Raum des Hafens war Hauptankerplatz der königlichen Flotte. Die Schiffe aus fernen Ländern nutzten die an der Küste liegende Stadt Gendaneris als Anlaufstelle. Ein reger Warentransport herrschte zwischen der Hauptstadt und dem Handelszentrum des Reiches.
Die Stadt Alneris bildete das politische und kulturelle Zentrum des Königreiches von Alnoa und das Zentrum seiner Macht, in dem die wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Das Reich bestand aus Provinzen mit deren Hauptstädten und Dörfern, die dem König Tribut zollten. Sie unterhielten eigene Stadtmilizen, die nicht dem Oberbefehl des Königs unterstanden, und entsendeten ihre Ratsherren, um sich durch diese im Kronrat vertreten zu lassen.
Der König Alnoas war eher ein Repräsentant als ein Befehlshaber und er musste auf die Wünsche der verschiedenen Interessengruppen Rücksicht nehmen. Nur im Kriegsfall, wenn das Reich unmittelbar durch einen Feind bedroht wurde, übte er seine Herrschaft uneingeschränkt aus. Dies führte immer wieder zu Spannungen im Kronrat, der für die goldenen Schüsselchen der Schatzkammer eine bessere Verwendung sah, als sie für die Garde auszugeben.
Der Versammlungssaal des Kronrates befand sich in einer der obersten Ebenen des Königsturms, den das Beben weitestgehend verschont hatte. Der Saal war kreisförmig und im weißen Stein gehalten. Die bequem gepolsterten Sitzbänke waren im Rund angeordnet. Gegenüber dem erhöhten Thron des Königs betrat man den Ring der Ratsversammlung. In der Mitte befand sich eine mehrere Längen messende Karte des Königreiches und der bekannten Regionen. Im Verlauf der letzten Jahre wurde sie immer wieder ergänzt, doch im Reich des Schwarzen Lords gab es nur wenige Markierungen, da keine Kundschafter so weit vorgedrungen waren.
Die Versammlung des Kronrates umfasste sechzehn Mitglieder sowie den König und den Kommandeur der Gardekavallerie.
Venval ta Ajonas, Herrscher über das Reich und seine Provinzen, nicht jedoch über dessen Kronrat, beriet sich mit seinem Freund Daik ta Enderos, dem Oberkommandierenden der Gardekavallerie, bevor beide den Ratsmitgliedern gegenübertraten und ihnen eröffneten, was die Zusammenkunft in Enderonas offenbart hatte.
Als Venval schwieg, setzte erregtes Stimmengewirr ein. Schließlich verschaffte sich ein Mann Gehör, der sicher nicht zu den Anhängern des Königs gehörte.
Welbur ta Andarat, Hochgeborener des Reiches, vertrat keine der Provinzen, sondern gehörte zum Hochadel der Hauptstadt. Er war ein sehr gut aussehender Mann und hätte sicher für ein Kriegerdenkmal Modell stehen können, doch er kämpfte lieber mit Worten als mit der Klinge. Er galt als Weiberheld und tat vieles, um diesen zweifelhaften Ruf zu nähren. In seiner Funktion als Schatzmeister des Rates gelang es ihm immer wieder, dem König und der Garde Schwierigkeiten zu bereiten, wenn es um die Zuteilung der goldenen Schüsselchen für zivile oder militärische Zwecke ging.
„Unbenommen hat Euer Majestät eine weise Entscheidung getroffen, den Bau der Schiffe in die fähigen Hände unserer alnoischen Konstrukteure zu legen“, begann Welbur und deutete eine Verneigung in Richtung des Königs an. Dieser wusste aus Erfahrung, dass ein solcher Respektbeweis seitens des Hochgeborenen meist das Vorspiel eines heftigen Geplänkels war, bei dem Welbur ta Andarat alles daransetzen würde, das Ansehen des Königs zu schädigen. „Gleichwohl stellt sich mir die Frage“, fuhr der Adlige auch prompt fort, „wer wohl all die goldenen Schüsselchen aufbringen soll, um den Bau der Schiffe zu finanzieren?“
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