Es gab eine bombastische schneeweiße Couch-Landschaft aus feinstem Leder, die sich nicht um eine, sondern um zwei Ecken räkelte. Und am anderen Ende des Raums stand ein Schreibtisch, dessen Platte von unten beleuchtet war. Wohnte hier ein Architekt oder ein Maler? Für einen Künstler sprachen die abstrakten Gemälde an den Wänden. Tiffy hatte sich nie erklären können, wie manche Leute in ein paar dahin gepinselten Strichen einen Sinn erkennen konnten und dafür dann auch noch viel Geld zahlten.
Wo zur Hölle war sie hier gelandet?
„Wow, du bist ja schon wach. Guten Morgen!“, rief plötzlich eine tiefe und sehr warme Stimme im Hintergrund. Tiffy zuckte, denn mit so viel Lautstärke hatte sie nicht gerechnet. Sie drehte sich um: Am anderen Ende des Lofts kam ein Fremder langsam auf sie zugelaufen. Aber war er wirklich ein Fremder? Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Die Angst war weg. Dafür begann sie sich zu schämen. Oh Mann, ich hab bei diesem Typen übernachtet! Ich bin nackt! Und er sieht auch noch verdammt gut aus…
„Ich bin übrigens Tom – falls du dich nicht erinnerst…“ Er lächelte einen Tick zu anzüglich, aber das merkte sie gar nicht. Tiffy starrte auf seine makellosen weißen Zähne, seine bronzene Haut und seine dichten rabenschwarzen Haare, in die man sich festkrallen könnte. Du liebes bisschen, hatte sie das letzte Nacht wirklich getan? Dieser Tom war groß, bestimmt 1,85 Meter oder noch mehr. Sein bordeauxfarbenes Hemd über der weißen Hose trug er offen und auf seiner Brust zeichnete sich ein gut trainiertes Sixpack ab.
Auch das noch, der sieht ja aus wie Superman! Tiffy nahm den Anblick zum Anlass, die Bettdecke noch ein bisschen höher zu ziehen, denn sie musste an ihre eigenen Fettpölsterchen und Problemzonen denken. Da konnte ihr ihre Mutter noch so oft versichern, dass es sich hier nur um „Babyspeck“ aus Kindertagen handelte – nein, mit 26 war das definitiv kein Babyspeck mehr, sondern ein Beweis für Tiffys Vorliebe für Nougat-Pralinen, Käsekuchen und Spaghetti Carbonara. Der verdammte Käse lag wie ein Fluch über ihren Hüften.
Tom kam ans Bett und setzte sich elegant auf die Kante, was gar nicht so einfach war: Erstens war das Bett relativ niedrig und zweitens balancierte er ein kleines Tablett in der rechten Hand. Darauf standen zwei kantige Espresso-Tassen – und ihr Inhalt duftete verführerisch. Dieses volle Aroma kannte sie nur von professionellen Café-Ketten.
Er lächelte, dieses Mal nicht so anzüglich, sondern etwas besorgt: „Geht es Dir gut? Du sagst ja gar nichts.“ Langsam fing Tiffy sich wieder. Sie wollte etwas sagen, doch sie hatte einen seltsamen Kloß im Hals. Verdammt, wenn ihr nur irgendetwas in diesem Schickimicki-Loft bekannt vorkäme – oder wenn sie wenigstens irgendwo einige ihrer Klamotten entdecken könnte. Sie räusperte sich ein bisschen, dann versuchte sie es noch einmal und wollte dabei besonders sachlich klingen: „Ich bin Tiffy. Tiffy Thielemann. Wo bitte bin ich hier?“ Okay, das klang jetzt etwas kühler, als sie beabsichtigt hatte, aber sie war auch verdammt wütend – vor allem auf sich selbst. Tom runzelte seine Stirn. Aus seiner Stimme war die Selbstsicherheit verschwunden: „Heißt das, du erinnerst dich an gar nichts? Weißt Du nicht mehr – die Fashion-Week-Party gestern Abend im ‚Adagio‘? Wir hatten uns an der Bar unterhalten.“
Tiffy kniff die Augen zusammen. Wie durch eine Nebelwand tauchten langsam die Bilder des gestrigen Abends auf. Und dann lichtete sich der Vorhang: Tiffy hatte ihre Freundinnen Vicki und Josie auf die After-Show-Party des angesagten Berliner Labels „Fashion4U“ begleitet. Vicki arbeitete als Modebloggerin und seit ihre Followerschaft auf Instagram die 100.000-er-Marke geknackt hatte, wurde sie auf alle wichtigen Mode-Events eingeladen und hofiert. Und das nicht nur in Deutschland. Vicki war vergangenen Herbst sogar auf der New Yorker Fashion Week zu Gast, demnächst standen Mailand und Paris auf dem Plan. Man hielt sogar einen Platz in der allerersten Reihe für sie frei und sie saß neben Ikonen wie der gefürchteten „Vogue“-Chefin. Manchmal beneidete Tiffy ihre Freundin für deren Lebensstil, dann aber fiel ihr wieder ein, wie einsam Vicki trotz all des Glamours war – vielleicht einsamer als sie selbst.
Josie wiederum wartete noch auf ihren großen Durchbruch. Sie hatte sich gerade als Hochzeits-Planerin selbstständig gemacht. Obwohl sie jeden Tag 18 Stunden schuftete, hatte sie sich noch keinen großen Kundenstamm aufbauen können und so kämpfte sie sich von Monat zu Monat. Tiffy bewunderte ihre Freundin für deren Durchhaltewillen und trotzdem war sie froh, dass sie selbst einen ruhigen und relativ sicheren Job als Assistentin bei einem Lifestyle-Magazin hatte. Da war sie zwar nur ein kleines Licht, aber dafür musste sie sich auch nicht dauernd neue Themen ausdenken und Abgabetermine einhalten. Nein danke, sollen sich doch die Redakteure, die sich für superwichtig hielten, auf diese Art Stress einlassen. Darauf konnte sie gern verzichten.
Und trotzdem: Wenn sie wirklich jemand war, der jedes Risiko vermied – wieso lag sie dann im Bett eines Mannes, den sie erst gestern Abend kennengelernt hatte? Eigentlich war sie kein Aufreißer-Typ. Tiffy war immer ein bisschen stolz darauf gewesen, sich die windigen Exemplare vom Leib halten zu können, die die angesagten Berliner Locations bevölkerten. Nein, in ihrem Freundinnen-Trio war sie immer die verlässlichste. Die Vernünftige. Und jetzt das. War ihr Instinkt verloren gegangen?
Verstohlen musterte sie diesen Tom. Jetzt erst fielen ihr seine schönen grünen Augen auf, die sie großherzig anblickten. Waren das wirklich die Augen eines miesen Aufreißers? Tiffy wurde unsicher. Tom hatte ihre Unsicherheit bemerkt und ehe sie sich versah, hatte er ihre Hand gegriffen. Seine Hand war riesig, Tiffys eigene verschwand darin komplett, wie ein Wollknäuel in einer bequemen Lederhandtasche. „Du musst dir keine Sorgen machen, wir hatten doch einen tollen Abend. Vielleicht erinnerst du dich ja: Ich war dieser Fotograf und wir kamen ins Gespräch über die letzte Show an diesem Tag. Ich fand eigentlich, dass wir einen guten Draht zueinander hatten.“
Jetzt erinnerte sie sich: Der Abend hatte mit Hugo-Cocktails mit ihren Freundinnen begonnen, als ihr dieser blendend aussehende Typ an der Bar aufgefallen war, der sie permanent anstarrte. Sie! Und nicht ihre selbstbewussten und superhübschen Begleiterinnen. Als er ihr dann am Tresen noch von seiner kürzlich verstorbenen Katze und seiner Trauer um „Whiskers“ erzählte, war es um sie geschehen: Das hier war ein einfühlsamer, netter Mann, der sich unter all den oberflächlichen Mode-Püppchen ein bisschen einsam fühlte – genauso wie sie… Die vielen Cocktails hatten wohl zum Rest der Nacht beigetragen.
Auf einmal tat Tiffy ihr strenger Tonfall von vorhin ein bisschen leid. Dieser Tom schien doch ein ganz netter Kerl zu sein. Er hielt noch immer ihre Hand fest. Plötzlich streichelte er mit seinem Daumen die Innenseite ihrer Hand. Tom starrte sie an. Damit änderte sich irgendwie die Chemie zwischen den beiden, es war, als ob die Luft flirrte. Tiffy fand das schon anzüglich, aber sie wollte ihre Hand nicht zurückziehen. Zu schön, zu vertraut fühlte sich dieses Streicheln an.
Sie fand es seltsam, dass ihre ganzen vernünftigen Abwehrmechanismen nicht mehr zu gelten schienen. Sie wollte mehr von diesem Streicheln, sie wollte es an ihrem ganzen Körper spüren. Und ihr Körper zitterte. Er ahnte ihr stilles Einverständnis. Sanft stellte Tom das Tablett mit dem Espresso ab. Es war totenstill. Als ob die Zeit angehalten hätte. Während er weiter ihre Hand hielt, nutzte er den nun freien Arm, um sie an seinen Körper zu ziehen. Da erst fiel Tiffy sein Geruch auf. Du lieber Himmel, dieser Duft war zu verführerisch. Kann ein Mann wirklich wie eine Mischung aus Sommerregen und Zedernholz riechen? Nun, dieser hier konnte es. Doch sie hatte keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Tiffy schloss ihre Augen. Ohne Vorwarnung näherte er sich ihrem Ohr und atmete immer schwerer – als hätte er eine Witterung aufgenommen. Mit einer schnellen Bewegung biss er ihr zärtlich ins Ohr, als wollte er seine Beute markieren. Erst ganz vorsichtig, dann immer drängender.
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