Die fünf ließen sich nicht lange bitten. Die Nachrichten von Edolfin galt es erstmal zu verdauen und das ging nicht so schnell. Sie winkten ihm nochmals zu und gingen schnell zur Tür.
Als wäre es nicht genug der Überraschungen, fanden sie sich urplötzlich in der Empfangshalle der Bibliothek wieder, genau dort, wo sich die verborgene Tür aufgetan hatte.
»Was war das?«, fragte Erik etwas verdattert und schaute sich um. »Ob das auch so ein Temploctor war wie auf der Herfahrt?«
Er blickte seine Freunde an und sah nur erstaunte Mienen.
»Das war bestimmt eins. Wir haben‘s nur nicht bemerkt«, sagte Pauline. »Aber das ist jetzt nicht weiter wichtig. Passen wir auf, dass die anderen nichts merken.« Die beiden kleinen rot schimmernden Leuchten, die etwa einen halben Meter über dem Boden schwebten, hatten sie in der Aufregung tatsächlich übersehen.
Möglichst unauffällig gingen sie zu ihren Plätzen, wo die zurückgelassenen Bücher noch lagen. Schnell packten sie sie weg und gingen zielstrebig zu Madame Ruborrak, um ihr das Ergebnis, das sie von Edolfin erhalten hatten, zu präsentieren.
»Ich kann nicht recht glauben, dass eure Suche in der Librum-Secundum-Loge mit rechten Dingen zugegangen sein soll«, zweifelte Madame Ruborrak mit erhobener Stimme und hob bedrohlich ihre Augenbrauen. Ihr Einwand war so laut, dass die Schüler in ihrer Nähe neugierig zu ihnen herübersahen.
Es gab aber auch weitere Schüler, die ebenfalls eine Lösung ihrer Aufgaben präsentieren wollten. Auch sie wurden von Frau Ruborrak misstrauisch beäugt.
»Wer, bitteschön, soll uns denn dabei geholfen haben?«, empörte sich Martin. Ihren neuen Freund Edolfin erwähnte er natürlich nicht.
»Es sind ja auch noch andere Gruppen fertig mit ihrer Aufgabe«, versuchte Miriam sie zu rechtfertigen.
Schon wollte Madame Ruborrak zu einer heftigen Erwiderung ansetzen, als im selben Augenblick Madame Griseldis mit einem Lächeln die Bibliothek betrat, um nach ihren Schützlingen zu sehen.
»Madame Griseldis...«, begann Pauline ungehalten, um sogleich von Madame Ruborrak rüde unterbrochen zu werden.
»MEIN LIEBES KIND, ICH GLAUBE DU SOLLTEST DICH BESSER ERST EINMAL ZURÜCKHALTEN.« Und zu Madame Griseldis gewandt berichtete sie von ihren Vermutungen über die „Vorkommnisse“ in der Librum-Secundum-Loge.
Doch Madame Griseldis reagierte souverän und im Sinne der Jugendlichen. Schützend stellte sie sich vor ihre Schüler und nahm mit klugen Sätzen dem Bibliotheksdrachen, so hatten die Schüler Madame Ruborrak inzwischen getauft, den Wind aus den aufgeblähten Segeln. Tatsächlich machten ihre Nasenflügel den Eindruck zweier großer Segel, die sich wie in einem starken Sturm hin und her bewegten.
So half Madame Griseldis den Schülern, die ihre Aufgabe schon gelöst hatten, die Bibliothek schnell verlassen zu können.
7. Eine sonderbare Begegnung
Zur gleichen Zeit als Justus und seine Freunde mit Edolfin zusammen saßen und Informationen über „ihren“ Erzengel Metatron und die Geschichte der Seherfamilien zu hören bekamen, bewegten sich Ottokar und Edelmund leise durchs obere Stockwerk der Bibliothek. Unbehelligt hatten sie die Wendeltreppe hochlaufen können. Wenn sie jedoch geahnt hätten, was sie erwartete, wären sie auf der Stelle wieder umgekehrt.
Oben galt es sich erst einmal zu orientieren. Die Treppe mündete in einen kleinen kreisrunden Raum, der rundum mit Büchern vollgestellt war. Drei schmale Gänge strebten von diesem Raum sternförmig auseinander.
Man konnte immer nur ein Stück in die Gänge hineinsehen, und das machte sie unheimlich. Es war hier nicht anders als in dem Gang, in dem Justus mit seinen Freunden gelandet war. Alle beschrieben einen bogenförmigen Verlauf. Betrat man sie, konnte man nach wenigen Schritten den Ausgangsort nicht mehr sehen. Doch warum sollte es Edelmund und Ottokar besser gehen als Justus und seinen Freunden?
Die beiden Ausreißer entschieden sich nach einigem Hin und Her für den Gang, der rechts von ihnen lag. Er führte zunächst scharf nach rechts und bog dann abrupt in die andere Richtung ab.
Hin und wieder kamen sie an einem der runden gläsernen Bodeneinsätze vorbei, durch die man bequem in den Lesesaal hinabsehen konnte. An diesen Stellen war für die beiden unbedingte Vorsicht geboten. Es genügte, dass die „gnädige“ Madame Ruborrak einen Blick nach oben warf, und schon wäre es um die Ausreißer geschehen.
Während Edelmund einen der Einsätze höchst vorsichtig umrundete, wäre Ottokar in seiner Dusseligkeit beinahe genau darüber hinweg gelaufen.
»Mensch, nun pass doch auf, wohin du trittst«, fuhr Edelmund ihn an und zog ihn hastig zur Seite. »Die können dich von unten jederzeit sehen. Mann bist du ein Depp.«
Ottokar stammelte Worte der Entschuldigung und trabte weiter hinter seinem Freund her.
Es waren aber nicht nur diese Hindernisse, die ihnen zu schaffen machten. Die Atmosphäre hier oben war bedrückend. Alles erschien verlassen. Es war still, totenstill, kein Mensch weit und breit. Aber so blieben sie auch unentdeckt. Wenn sich diese Stille nur nicht so schwer auf ihr Gemüt legte.
Langsam bekam es Ottokar mit der Angst zu tun. Er fühlte sich überfordert mit der Situation, in die sie sich gebracht hatten. Auf ihn wirkte alles nur unheimlich und bedrohlich.
Selbst Edelmund spürte das und bemühte sich, Ottokar einigermaßen bei Laune zu halten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig als einfach weiterzugehen.
Nach einer weiteren Gangbiegung standen sie plötzlich vor einer Wendeltreppe, die wieder nach unten führte. Auf der anderen Seite der Treppe gab es zwei Gänge. Welchen davon sollten sie nehmen?
»Ich will hier r-raus.«
»Kein Problem, das schaffen wir«, versuchte Edelmund seinem Kumpel und sich selbst Mut zu machen. »Ich weiß schon, wohin die Treppe führt«, erklärte er Ottokar in selbstsicherem Ton, doch ohne den blassesten Schimmer. Seine eigene Unsicherheit überspielend, schob er seinen Freund kurzerhand vor sich her die Treppe hinunter.
Unten angekommen umgab sie ein seltsam nebelhaftes Dämmerlicht, obwohl die zweiarmigen Kerzenleuchter an den Regalen ausreichend Helligkeit verbreiteten.
Ottokar rutschte das Herz nun gänzlich in die Hose. »W-was ist das hier? Alles dunkel! Wo s-sind wir denn jetzt?«, wandte er sich jammervoll an Edelmund. »W-wollen wir den We-weg nicht besser w-wieder zurückgehen?«
»Das geht nicht. Wenn wir jetzt zurückgehen, kriegen wir fürchterlich eins auf die Mütze und das nicht zu knapp. Stell‘ dir doch bloß diese Ziege im Foyer vor.« Auch seine Stimme ließ jegliche Zuversicht missen.
Aufmunternd fügte er hinzu: »Komm‘ schon, wir werden das schaffen. Früher oder später werden wir hier herausfinden.«
»Und w-was ist, wenn das Sp-päter sehr v-viel später ist?«, jammerte Ottokar. Langsam ging er seinem Kumpan auf den Nerv. Edelmund wünschte sich inzwischen nichts sehnlicher, als wieder in der Halle zu stehen.
Auch er fühlte sich nun hilflos. Wohin, fragte er sich insgeheim, waren sie geraten? Wieso leuchteten die Kerzen alle ganz normal hell und trotzdem lagen die Räumlichkeiten in einem ominösen Halbdunkel? Dieser Schleier, der über allem schwebte, nagte an seinen Nerven. Die Atmosphäre hier unten wirkte unheimlich und beängstigend. Alles war so anders, als in den übrigen Räumen der Schule. Zu allem Überfluss ließ ihn sein Orientierungssinn im Stich. Wo und in welchem Teil der Bibliothek befanden sie sich? Hier stimmte was nicht! Das konnte er förmlich spüren.
Im nächsten Augenblick bekamen sie leibhaftig zu sehen, was ihre Stimmung so niederdrückte. Kaum hatten sie begonnen, sich in diesem Raum umzusehen, da bewegte sich schwarzer Nebel aus einem der Gänge lautlos auf sie zu.
Ottokar schrak entsetzt zurück und stieß einen Schrei aus. Er suchte Halt und klammerte sich an die Kukulle seines Freundes. Der Nebel kam näher und verdichtete sich zu einer schemenhaften Gestalt, die nicht fassbar war. Sie schwebte auf sie zu und füllte fast den ganzen Raum.
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