Nach ungefähr einer halben Stunde lasse ich die Broschüre sinken. Ich muss zugeben, ich bin mehr als beeindruckt. ‚The key‘ ist selbstverständlich kein Bordell, Liebeshotel scheint mir die passende Bezeichnung zu sein. Nachdenklich trinke ich mein Bier. Mein Blick wandert durchs Wohnzimmer, erfasst die vertraute Umgebung. Andreas mag die offensichtlichen Erinnerungsstücke alle mitgenommen haben, doch jedes Möbel, ja selbst die Wände und der Fußboden, stecken voller Geschichten über unser Leben, unsere Beziehung. Es ist wirklich an der Zeit, dass ich mich neu orientiere. Mutiger werde. Ein Aufenthalt in einem Liebeshotel in Cornwall scheint mir da ein geeigneter Anfang zu sein. Auf neutralem Boden, fernab der Heimat, erste Gehversuche in eine neue Richtung zu unternehmen, kommt mir immer verlockender vor.
Entschlossen schnappe ich mir den Fragebogen, lese ihn diesmal in aller Ruhe durch, ehe ich ihn gewissenhaft von A - Z ausfülle. Meine roten Ohren und heißen Wangen blende ich aus. Ist ja keiner hier, der was mitkriegt. Über die Angabe eines Pseudonyms grübel ich eine ganze Weile, entscheide mich dann einfach für ‚John‘. Es kommt meinem Realnamen nahe genug, sodass ich mich damit hoffentlich wohlfühle, wenn man mich so anspricht. Danach rufe ich die Nummer auf dem Anmeldeformular an und werde mit einer Heather Sinclair verbunden, die mir die weiteren Details erklärt. Diskretion und absolute Anonymität sind sowohl für die Gäste als auch die Angestellten von ‚The key‘ von höchster Priorität.
Ein Expresskurier wird Montagmorgen die Anmeldung abholen und ihr zuschicken. Der Fragebogen, mein Wunschkatalog sozusagen, wird dann mit anderen Einsendungen ausgewertet, ein passender Begleiter gesucht und danach verschiedene Termine genannt, zu denen ich anreisen kann. Nach der Zuweisung der jeweiligen Partner werden die Formulare vernichtet, versichert mir Heather, wie ich sie nennen soll, sehr glaubhaft.
Natürlich erklärt sie mir auch, dass die Paarung unverbindlich ist und jeder individuell entscheidet, wie er die Woche gestalten will. Sex sei eine Sache, die man untereinander ausmache und keinesfalls obligatorisch, was mich ehrlich gesagt gleichermaßen erleichtert und enttäuscht. Denn trotz einer mehr als zehnjährigen Beziehung fühle ich mich auf sexuellem Terrain irgendwie unbeholfen. Es war ja nie großes Feuerwerk zwischen Andreas und mir. Wenn bei einem anderen Mann ebenfalls keine Funken sprühen, dann stünde zumindest eindeutig fest, dass ich Schuld am Scheitern unserer Liebe bin. Ein ernüchternder Gedanke.
Ach verdammt, ich male mir schon wieder alles in den düstersten Farben aus. Damit ist jetzt Schluss. Ich verabschiede mich von Heather, suche ein passendes Kuvert für den Fragebogen und fülle rasch die Anmeldedaten aus. Sämtliche Papiere schiebe ich in den Umschlag und klebe ihn zu, ehe ich es mir anders überlege. Noch die Adresse drauf und fertig.
Danach bin ich aufgekratzt und gleichzeitig voller Panik. Hab ich gerade wirklich eine Art Liebesurlaub gebucht, den ich mit einem ausgesuchten Sexpartner verbringen soll? Okay, das ist übertrieben, Sex wird ja nicht vorausgesetzt. Aber trotzdem ...
Matt plumpse ich zurück auf die Couch. Oh Mann, ich bin total übergeschnappt! Einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, Heather zurückzurufen, die ganze Sache abzublasen, dafür bin ich jedoch zu feige. Hm, ich könnte einfach Montagfrüh den Kurier wieder wegschicken und ... Nein! Ich werde nichts dergleichen tun. Schließlich will ich doch einen Neuanfang. Dieser Urlaub ist so ... eine Art Testlauf. Eine Generalprobe. Ich muss herausfinden, ob es ein Leben ohne Andreas für mich gibt. Und wenn ich dabei auch noch rausfinde, was falsch gelaufen ist, stehen meine Chancen gut, ein wenig Glück zu finden.
Mutterseelenallein stehe ich mir am Bahnhof von Newquay die Beine in den Bauch und harre des versprochenen Taxis, das mich nach ‚The key‘ befördern soll. Ich bin müde, hungrig und die düsteren Wolken, die sich da über mir zusammenbrauen gefallen mir gar nicht. Hoffentlich bin ich in Sicherheit, sprich im Auto oder noch besser schon im Hotel, ehe die Schleusen sich öffnen.
Ich umfasse den Griff meines Trolleys fester und nehme den Marsch über den Bahnhofsvorplatz wieder auf. Nach weiteren zehn Minuten, einem bangen Blick gen Himmel beschließe ich, mir selbst ein Taxi zu besorgen. Was ja nicht so schwer sein dürfte. Ich überlege gerade, in welche Richtung ich meine Suche nach einem Beförderungsmittel beginnen soll, da hält eine schwarze Limousine am Gehweg. Ein distinguierter Gentleman steigt auf der Fahrerseite aus und kommt geschäftig auf mich zugeeilt. Ein englischer Chauffeur, wie er im Buche steht. Ob mich in ‚The key‘ wohl auch ein typischer Butler erwartet? Ich schmunzle und meine Laune hebt sich. Besonders, als der ältere weißhaarige Herr mich freundlich anspricht.
„Mr. Krämer? Mein Name ist George und ich bin Ihr Fahrer. Bitte verzeihen Sie vielmals die Verspätung. Es gab einen klitzekleinen Disput mit einer Schafherde“, begrüßt er mich in stark akzentuiertem Deutsch. Ein sympathisches, entschuldigendes Lächeln wird mir geschenkt und zuvorkommend mein Gepäck übernommen. „Wenn Sie mir bitte folgen mögen.“
Das tue ich sehr gerne. Und keine Sekunde zu früh. Ich bin gerade in den Fond gestiegen und George schließt die Tür hinter mir, da startet der Wolkenbruch auch schon. Gott sei Dank! Erleichtert sinke ich in die weißen Lederpolster, schließe einen Moment die Augen. Jetzt nur noch die Anmeldung erledigen und dann Füße hoch. Die Fahrertür wird geöffnet, ein durchnässter George gleitet auf den Sitz. „Puh, das war knapp. Hatten Sie eine angenehme Anreise bis hierher, Sir?“
Ohne meine Lider zu öffnen, antworte ich dem Chauffeur. „Zumindest eine relativ Unkomplizierte. Bin nicht so unbedingt der große Urlauber. Ein paar Tage in ein Ferienhaus an die Ostsee standen bisher eher auf dem Programm. Das hier ist sogar mein erster Auslandsaufenthalt.“
„Nun, Sir, ich bin davon überzeugt, dass es Ihnen bei uns ausgezeichnet gefallen wird. Cornwall ist das schönste Fleckchen der Erde. Man kommt hierher und möchte nie wieder weg.“
Nun öffne ich doch die Augen, schaue nach vorne auf den Hinterkopf meines Chauffeurs. Ich nicke, was er im Innenspiegel sieht. „Die britischen Inseln faszinierten mich schon immer, die englische Küste mit Cornwall dabei ganz besonders. Und auch wenn ich skeptisch bin, was Bilder im Internet angeht, muss ich sagen, das Schloss und seine Anlagen haben mich sofort angesprochen.“
Die Limousine bremst plötzlich abrupt ab und ich werde unsanft durchgerüttelt. Ehe ich George nach der Ursache fragen kann, ergreift er schon das Wort. „Ich bitte um Verzeihung, Sir. Unsere Fahrt wird sich bedauerlicherweise leicht verzögern. Die Schafherde ist noch nicht sehr viel weitergezogen.“
Mir klappt die Kinnlade runter. Schafe? Dann habe ich das eben doch richtig verstanden? Ich spähe aus dem Fenster und muss unwillkürlich grinsen. Direkt an meiner Tür trottet eins dieser Viecher vorbei. Ich recke mich etwas vor und entdecke den Rest der Herde, die munter und fröhlich die Straße überquert. Oder eher, sie ebenso benutzt wie wir. Es ist ein lustiger Anblick, führt mir aber auch vor Augen, dass Füße hochlegen und entspannen noch in weiter Ferne liegt. Na toll. Ich bin wirklich nicht der geborene Urlauber, wenn mir das jetzt schon zu viel wird.
„Äh George“, frage ich nach einer Viertelstunde des Hinterherrollens der Herde. „Ja, Sir?“ „Kann man das irgendwie beschleunigen?“, erkundige ich mich vorsichtig, denn bei dem Tempo, was die lieben Tierchen da vorlegen, erscheint mir eine Übernachtung in der Limousine durchaus wahrscheinlich. „Es tut mir leid, Sir. Aber die ungeschriebene Regel hier in der Gegend lautet: Die Schafe haben immer Vorfahrt. Ganz abgesehen davon, dass es kein adäquates Mittel gibt, sie von der Straße zu befördern. Es sei denn, Sie möchten aussteigen und ihnen Beine machen. Sie vielleicht einzeln wegtragen, Sir.“
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