Sie watschelt von dannen und ich muss unwillkürlich grinsen. Sabine, eine unserer acht Aushilfen, hat vor zwei Jahren mal eine Misswahl der regionalen Tageszeitung gewonnen und ist jetzt fest überzeugt, als internationales Model durchzustarten. Daran feilt sie fleißig - wie auch an ihren Nägeln in jeder freien Minute. Ach was soll’s. Jedem das seine. Solange meine Mädels sich bei ihren Aufgaben sputen und fehlerlos arbeiten, ist mir ihre Freizeitgestaltung schnuppe. Grinsend gehe ich in die Anmeldungsmatrix für die Kassen, schalte Sabine frei und öffne den Tresor. Auf in den Kampf.
***
Lustlos schiebe ich den Einkaufswagen durch die jetzt am späten Nachmittag leeren Reihen des Supermarkts und werfe ebenso desinteressiert wahllos die Lebensmittel in mein Gefährt. Mein Speiseplan lässt in den letzten Wochen zu wünschen übrig. Ständig Fertiggerichte oder der Lieferservice sind nicht das Gelbe vom Ei. Früher habe ich gerne für Andreas gekocht, es war eine richtige Leidenschaft, aber für mich alleine fehlt mir der Antrieb. Wozu sollte es auch gut sein?
Ich werfe einen Blick in den Wagen. Sieht aus, als hätte ich alles und so trotte ich Richtung Kasse. „Moin Jan. Mal wieder Großeinkauf?“, fragt Anja mit einem Zwinkern. Ich lächle müde und nicke nur höflich. Muss ja nicht jeden gleich mit meiner schlechten Laune vor den Kopf stoßen. Und Anja ist ein netter Mensch und so was wie eine Freundin.
Ich bin mit ihr zur Schule gegangen und wir waren als Kinder Nachbarn. Jetzt lebt sie mit ihrem Mann und zwei Gören einen Ort weiter und kommt nur zweimal die Woche für ihren Minijob hierher zurück. Ab und zu treffen wir uns mal zusammen mit den anderen aus unserem Jahrgang, die ebenfalls hier im Kaff hängen geblieben sind. Oft zum Grillen im Sommer oder auch mal für einen Spieleabend im Winter. Viel verbindet uns nicht mehr. Ich bin nicht böse drum. Meine Kumpel von damals sind alle verheiratet, die meisten bereits mit Nachwuchs. Andreas und ich waren immer ein wenig Außen vor, obwohl es hätte schlimmer kommen können. Nach unserem gemeinsamen Outing im vorletzten Schuljahr gab es kaum Wirbel, keine Mobbingattacken oder sonstige Anfeindungen. Man nahm es zur Kenntnis und dann wurde es weitestgehend ignoriert.
Seufzend verstaue ich meine Einkäufe in den Rucksack, winke Anja zum Abschied und bringe den Wagen zurück. Egal, wen ich treffe oder woran ich auch vorbeikomme, ich muss unweigerlich an meinen Lebensgefährten denken, na ja Exlebensgefährte ist es jetzt wohl. Es ist nicht so, dass mich Freunde oder Bekannte auf ihn ansprechen, niemand käme auf die Idee, aber es gibt eben kein Ereignis in meinem Leben, das nicht mit Andreas verbunden ist.
Wir kennen uns seit dem Sandkasten, waren praktisch schon da an der Hüfte festgewachsen und wurden scherzhaft die siamesischen Zwillinge genannt. Der erste Kuss, das erste Mal. Das erlebten wir alles gemeinsam - miteinander. Zehn Jahre waren wir glücklich. Zumindest glaubte ich das. Die Abschiedszeilen des mir wichtigsten Menschen belehrten mich eines Besseren.
‚Lieber Jan, es tut mir leid, aber ich bin am Ende. Ich brauche mehr, als du mir gibst. Die Schuld liegt nicht bei dir, es ist einfach nur eine Tatsache. Ich bin auf der Suche nach etwas, das ich nicht benennen kann. Vielleicht finde ich es eines Tages, vielleicht nicht. Ich wollte dich nie verletzen und glaube mir, wenn ich dir versichere, dass du immer mein bester Freund sein wirst. Eines Tages werden wir uns wiedersehen und ich hoffe, dass wir uns dann in die Augen sehen können. Ich wünsche dir nur das Beste, denn das ist es, was du verdienst. Leb wohl. Dein Andreas.‘
Ich verdiene also nur das Beste. Spöttisch schnaube ich und schwinge mich auf meinen Drahtesel. Entspannt radel ich nach Hause, spüre jedoch rasch, wie die Wut wieder in mir hochschwappt. Das Beste. Dass ich nicht lache. Nach einem anstrengenden Arbeitstag in die gemeinsame Wohnung zu kommen und sie leer und verlassen vorzufinden ist Andreas‘ Vorstellung dieses Besten gewesen. Alle seine Sachen waren weg. Kleidung, persönliche Dinge, sogar jedes Foto hat er mitgenommen oder vom Computer gelöscht. Nur die zusammen angeschafften Möbel hat er stehen gelassen. Sie sind somit das Einzige, das mich an unsere Zeit dort erinnert. Den Rest hat er ausgelöscht, unsere Vergangenheit einfach ausradiert als sei sie bedeutungslos.
Zuhause parke ich mein Fahrrad im Hof und flitze die Außentreppe hoch, den Eingangsflur absichtlich vermeidend. Für heute hab ich ausreichend Selbstbemitleidungsstunden auf dem Konto. Ich muss sie nicht noch aufstocken, in dem ich den Briefkasten checke. Samstagmorgen ist früh genug.
In der stillen Wohnung verstaue ich die Einkäufe, springe unter die Dusche, schiebe ein Fertiggericht in die Mikrowelle, das ich vor der Glotze in mich hineinschaufle. Lustlos zappe ich durch die Kanäle, bleibe an der Wiederholung einer amerikanischen Krimiserie hängen und lasse mich über die Abgründe der Menschheit aufklären. Ich lache freudlos, schlurfe in die Küche, um das Geschirr zu spülen. Für die Untiefen der menschlichen Seele brauche ich kein Fernsehen. Die Erkenntnisse darüber bekam ich live und in Farbe nach Andreas‘ Abgang serviert.
Ich gehe noch mal ins Bad, danach lege ich mich hin. Es ist erst kurz vor neun, doch mein Elan für Freizeitbeschäftigung geht Richtung null. Schlafen klingt da wie die bessere Alternative. Es liegt ein langes freies Wochenende vor mir, vor dem mir jetzt schon graut. Andreas und ich gehörten zwar nicht unbedingt zur Fraktion der Freizeitjunkies, aber selbst wenn wir nur auf der Couch rumhingen, zumindest waren wir zusammen. Aufgewühlt wälze ich mich von einer Seite auf die andere. Es bringt nichts. Mein Gehirn produziert Erinnerungen im Sekundentakt, hämmert mir meine Blödheit nachdrücklich ein.
Denn in winzigen klaren Momenten, wo ich es schaffe meinen verletzten Stolz beiseitezuschieben, ich ernsthaft nachdenke, weiß ich, warum mein Mann mich verlassen hat. Wir sind nie wirklich Partner gewesen, kein Liebespaar, wie es in Büchern beschrieben wird - mit rosa Herzchen, die man überall hinmalt. Okay, Scherz beiseite, das muss auch nicht sein. Andreas und ich waren beste Freunde, so eng miteinander verbunden, dass wir die Sätze des anderen beendeten, weil wir immer die Gedanken unseres Gegenübers kannten. Nur bei unseren Gefühlen hatten wir wohl die Scheuklappen auf. Romantik existierte für uns nicht und Sex? Eher lästige Pflicht als Kür. Eine mechanische Übung zum Druckabbau. Wir brachten keinen Vulkan zum Explodieren, bei uns reichte es nicht mal zum Anzünden einer Kerze.
Und dennoch: Ich vermisse ihn. Er gehörte so lange zu meinem Leben, ist untrennbar mit den wichtigsten Meilensteinen verbunden, sodass sein Verlust eine klaffende Wunde hinterlassen hat. Eine Wunde, die auch sechs Monate später unverändert blutet und keine Anzeichen von Heilung zeigt. Denn bei allem Verständnis, warum er gegangen ist - die Art und Weise, wie er es getan hat, sich weggeschlichen wie ein Dieb in der Nacht, das kann ich ihm nicht verzeihen. Das unentwegte Grübeln erschöpft mich schließlich doch und ich drifte ins Traumland.
***
Samstagmorgen bin ich wie gerädert. Die Nacht war unheimlich ereignisreich, lebhafte Szenarien, was ich alles mit meinem Ex anstellen würde, wenn ich ihn denn mal in die Finger bekäme. Schnaufend trotte ich ins Bad. Eine heiße Dusche und eine Tasse schwarzer Kaffee später fühle ich mich zwar längst nicht ganz der Lebendfraktion zugehörig, aber der Pegel zeigt nach oben. Halleluja!
Ich beschließe, mal wieder etwas für die Fitness zu tun und schlüpfe in Joggingklamotten. Die Sonne lacht vom Himmel, es ist noch angenehm kühl, also perfekt für ein bisschen Outdoorsport. Beschwingt tänzel ich die Treppen hinunter, ignoriere entschlossen die Briefkästen und strecke draußen erst mal mein Gesicht den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen. Dann laufe ich los.
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