»Es ist bisher zu wenig der Zeit vergangen, die sie für die Bewältigung der Strecke benötigen. – Jetzt schau nicht so erstaunt, das sind Tatsachen. Ich habe zwischenzeitlich versucht, Cian zu kontaktieren, was leider nicht funktioniert. Ich hatte gehofft, ihn zur Unterstützung herbeirufen zu können.«
»Das ist wirklich schlimm«, bestätigt Lennard. Er hält mindestens genauso große Stücke auf die Fähigkeiten dieses alten Elfen wie Kayleigh. Voller Sorge betrachtet er den Himmel über dem Turm. Am frühen Morgen war er strahlend blau und verdunkelte sich mit Erscheinen der Dubharan. Als die Kampfpause begann, sah es kurzzeitig so aus, als ob sich die dunkle Wolkendecke, die an vielen Stellen aufgerissen war, verflüchtigen würde. Das helle Sonnenlicht begann, die Festung und die Ebene zu überfluten. Doch nun sieht es so aus, als ob sich die Wolken wieder zusammenballen. Die ersten Sterne, die am Abendhimmel zu erkennen sind, werden von ihnen verdunkelt. Neue Schreie dringen von außen zu den Verteidigern. Steht in der Dunkelheit ein neuer Angriff der Dubharan bevor?
Cloe macht es sich im tiefen Heu bei den Tieren im Pferdestall bequem und lauscht einige Zeit den Geräuschen in der Dunkelheit. Ihr wurde zwar in einer der Hütten ein eigenes Zimmer mit Bett angeboten, doch sie will lieber die Nacht in der Nähe Doineanns verbringen. Nach dem langen Gespräch mit Arawn vermag sie zuerst nicht einzuschlafen. Sie weiß, dass dieser Mann der Herrscher der Fairwings, also deren König ist, obwohl er sich nicht so bezeichnet. Er erläuterte ihr die Verhältnisse auf der Insel der Elfen, erklärte, was Darkwings und Fairwings voneinander unterscheidet, aber auch, was sie gemeinsam haben. Cloe findet es schade, dass es nur noch wenige der Westelfen hier gibt, die zudem sehr zurückgezogen leben. Sie hätte sich gerne mit ihnen unterhalten, obwohl ihre Sorge um Cian drängend ist. Vielleicht bekommt sie dazu eine Gelegenheit, wenn sich der alte Elf auf dem Wege der Besserung befindet.
Arawn erwähnte im Gespräch, dass jedes Oberhaupt der Fairwings magische Fähigkeiten besitzt, seitdem sich eine Westelfe und ein Vorfahr dieser Herrscher vermählten und Kinder bekamen. Die Eigenarten der magischen Fähigkeiten sind jedoch nicht immer gleich, sie ändern sich von einer Generation zur nächsten. Er besitzt die besondere Gabe eines Gestaltwandlers und ist außerdem ein Spurenleser. Darüber grübelt die junge Elfe, findet jedoch keine Erklärung, was die Begriffe bedeuten. Arawn hat diese Ausdrücke nur nebenbei erwähnt, so, als seien sie nichts Besonderes. Doch daran glaubt sie nicht.
Dieser Mann ist seltsam, wirkt auf angenehme Art geheimnisvoll. Er vermittelt ihr den Eindruck, bei ihm geborgen zu sein. Er versteht unter Herrscher nicht, andere zu unterwerfen und auszubeuten, sondern, deren Behüter, quasi ihr Vater zu sein. Das drückt sich in der Art aus, wie er mit seinen Gefährten, aber auch mit der fremden Elfe umgeht.
»Warum ist Cian so verwirrt, ist das eine Folge seiner Verletzung?« Cloes Gedanken driften davon. Was hatte Arawn über Cian gesagt? »Er murmelt immer wieder »Drache« oder auch »Draco«. Ob damit das Drachenungeheuer gemeint ist. Habe ich … doch, ich habe heute ein …« Sie ist fast eingeschlafen, da schreckt sie wieder auf. Eines der Pferde schnaubt und scharrt mit einem Huf. Ist das Doineann, droht hier eine Gefahr? Das Herz der Elfe pocht heftig, während sie auf Geräusche lauscht. Soll sie eine Lichtkugel nutzen, um sich umzuschauen? Sie wagt es, auch auf das Risiko hin, sich dadurch möglichen Feinden zu verraten.
Die Kugel schwebt zur Decke und zeigt ihr, dass sie mit den Pferden allein ist. Sie scheinen völlig entspannt zu sein. Sollte sie sich getäuscht haben? Da sie nun aber hellwach ist, steht Cloe auf, geht nach draußen und schaut sich dort um. Der Platz zwischen den Hütten ist leer, die Männer haben sich auch schlafen gelegt! Da bis auf die Silhouetten einiger Vögel auf den Hüttendächern niemand zu sehen ist, normalisiert sich der Herzschlag der Elfe wieder. Sie beschließt dann aber vorsorglich, noch einen Blick auf die Zugbrücke zu werfen. Die Pferde könnten einen Wolf gehört haben! Sie muss sich vergewissern, dass dort alles in Ordnung ist. Die Lichtkugel schwebt etwas vor ihr her und beleuchtet den Weg. Im Durchgang des Walls hallen ihre Schritte, sonst sind keine Geräusche zu hören. Die Zugbrücke ragt in den Himmel, hier ist also alles in Ordnung. Der tiefe Abgrund versperrt den Raubtieren den Zugang zur Fluchtburg. Die Elfe seufzt zufrieden. Sie überlegt kurz, ob sie den Rat Arawns missachten und kurz auf der anderen Seite nachsehen soll, ob die Wölfe immer noch zwischen den Felsen auf ihre Beute lauern. Die werden vermutlich längst aufgegeben haben. Außerdem kann sie notfalls zaubern, was soll ihr da schon groß geschehen? Sie fixiert eine gegenüberliegende Stelle und beginnt den erforderlichen Spruch.
»Porta...«, als sie sich schnell unterbricht. Auf der anderen Seite glitzert etwas. Es befindet sich etwa in Höhe eines Felsens, der oberhalb des Weges liegt, den sie hierher genommen haben. Dort erkennt sie zwei rötliche Punkte, die von einem Paar Augen stammen, die das Licht der Leuchtkugel reflektieren. Sie lenkt diese zu dem Felsen hinüber, doch bevor das Tier auf dem Stein zu erkennen ist, verschwinden die eng beieinanderstehenden Lichtpunkte. Cloe ist sicher, das muss einer der Wölfe gewesen sein, der von dort zu ihr herüberschaute. Ein leiser Schauer läuft ihr den Rücken hinab. Jetzt fällt ihr ein Fehler auf, sie hat vergessen, zuerst ihren magischen Schutz aufzurufen! Es ist nur gut, dass sie bisher auf Arawn gehört hat. Die Räuber gelangen nicht zu ihr, wenn sie sich ihnen nicht freiwillig ausliefert. Ob sie morgen immer noch auf ihre Beute lauern? Die Elfe schüttelt sich. »Das werde ich bei Tageslicht sehen!« Sie dreht sich um und liegt bald wieder im duftenden Heu. Als die Lichtkugel erlischt, hinterlässt sie eine tiefere Dunkelheit als zuvor. Erneut dauert es lange, bis die Elfe einschläft.
Ein Paar bernsteinfarbene Augen fixieren Cloe. Sie bannen sie derart, dass sie kaum zu atmen wagt. »Ich muss mich schützen«, denkt sie verzweifelt. Doch der sonst so einfach aufgerufene Spruch fällt ihr nicht ein. »Das ist doch nicht möglich. Mom, wie kann ich mich …?« Die Elfe dreht sich in Zeitlupe um und versucht fortzulaufen, doch die Beine wollen nicht gehorchen. Ganz langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen. Kann sie dem Räuber so entkommen? Es muss doch möglich sein, schneller zu laufen! Aber es gelingt ihr nicht! Sie blickt angstvoll zurück. Die zwei braunen Augen starren sie unverändert an. Sollte der Wolf, denn diesem Tier gehören sie, hypnotische Kräfte haben? Vermag sie deshalb nicht zu zaubern? Erneut versucht sie, fortzulaufen, nachdem sie sich mit Mühe zur Flucht gewandt hat.
»Du träumst!«, vernimmt sie plötzlich eine Stimme. Ist das ihre Mutter? Nein, sie klingt nach einem Mann. Aber wer kann das sein? »Ich bin Arawn. Keine Angst, dir passiert nichts.«
»Arawn? Woher kenne ich den Namen?« Sie glaubt dieser Stimme, sie wirkt überzeugend und ruhig. Der Mann, dem sie gehört, scheint jeder Situation gewachsen zu sein. Die Elfe atmet auf und dreht sich zu dem Räuber zurück. Sollte sie träumen, besteht keine Gefahr, wenn sie dem Tier in die Augen schaut. Doch egal wohin sie sich wendet, der Wolf ist verschwunden.
Mit einem tiefen Seufzer wacht Cloe auf. Sie öffnet die Augen und erkennt, dass es mittlerweile Morgen ist. Schnell steht sie auf und blickt zu den Pferden. Sie kauen auf Heuhalmen und blicken sie interessiert an.
»Wann geht es weiter?«, scheinen sie fragen zu wollen. »Haben wir noch Zeit, etwas von dem leckeren Futter zu naschen?« Die Elfe lächelt bei diesen Gedanken und streichelt Doineann. Das grau-weiße Pferd schnaubt zur Begrüßung und wedelt mit dem schiefergrauen Schweif. Cloe denkt kurz an Kayleigh, die ihr die wertvolle Stute geschenkt hat. Ob die Oberste der Nordelfen mittlerweile Kontakt zu Cian bekommen hat? Die Schwierigkeiten könnten darin liegen, dass die beiden zu weit voneinander entfernt sind. Es ist aber auch möglich, dass der verwirrte Elf von der Kontaktaufnahme nichts bemerkt! Sofort drängt es die junge Elfe, nach Cian zu schauen. Sie hat diese Aufgabe von Kayleigh übernommen und ist es ihr schuldig, sich um ihren alten Freund zu kümmern. Cloe richtet ihre Kleidung und zupft sich einige Halme aus dem Haar. Sie streicht mit den Finger hindurch, um es zu glätten, dann tritt sie aus dem Stall.
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