Emma, die als letzte ins Bad durfte, stand vor der Tür, als ihre Brüder jeweils im Bad waren. Wenn sie eindeutige Geräusche aus dem Bad hörte, schrie sie sofort auf und hämmerte an die Tür: “Jetzt zieh endlich“, denn Emma hatte eine sehr empfindliche kleine Nase.
Endlich saßen alle am liebevoll gedeckten Frühstückstisch im Wintergarten und wollten mit dem Frühstück beginnen. Spanischer Schinken, Schafs -, Kuh - und Ziegenkäse, selbst gemachte Orangenmarmelade, Kaffee, Milch, Kakao und Weidenröschen Tee - alles war da. Nur eine fehlte - Emma.
Plötzlich ertönte ein helles Stimmchen aus Opa Herberts kleinem Schlafzimmer.
“Kaa – Maa – Suu - Traa.“ Emma war in der ersten Klasse und konnte noch nicht flüssig lesen. “Papi, was ist ein Kamasutra?“ Betretene Stille. Gisela entgleisten die Gesichtszüge, das gesunde Braun verschwand blitzschnell aus ihrem Gesicht und machte der Farbe eines vollreifen Feta Käses Platz.
Anton grinste, Emil schaute noch verständnislos drein, Andrea und Klaus sahen sich fassungslos an. Und Gisela zischte zu Herbert, dem gerade ein Brötchenteil aus dem Mund gefallen war: “Herbert, um Gottes Willen, was hast du denn da wieder offen liegen lassen?“
Andrea und Klaus hatten in die Aufklärung ihrer Kinder nicht sonderlich viel Energie verwandt. Klaus war sowieso der Meinung, dass er dieses sensible Thema Andrea als Mutter überlassen sollte. Und Andrea fand es eigentlich viel besser, wenn die Lehrer in der Schule die Kinder aufklären. Die waren entsprechend ausgebildet, und es gehörte letztlich ja zu ihrem Job, die Kinder auch auf diesen Teil des zukünftigen Lebens vorzubereiten.
Die Ahnungslosigkeit, in der Klaus und Andrea ihre Kinder ließen, führte dann zum größten Erstaunen der Kinder, wenn sie ihre Eltern zufälligerweise im Adams - bzw. Evaskostüm sahen.
Anton erklärte als dreijähriger seine überraschende Beobachtung wie folgt: “Papa hat ein Schwänzchen - aber Mama hat nur Fussel.“ Während Antons Entdeckung anatomisch korrekt war, verfiel Emil etwas später in eine grundlegende philosophische Überlegung.
Emil war vollkommen fassungslos, als er seine Mutter das erste Mal ohne Kleider im Bad sah und stammelte erschrocken:“Mama, ja bist du denn überhaupt ein Mensch?“
Anton war der erste von den kleinen Thalers, der ahnte, dass zwischen Mann und Frau etwas Geheimnisvolles passieren könnte.
Als Andrea eines Abends mit dem Mann ihrer Freundin ins Theater gehen wollte, weil sowohl die Freundin, als auch Klaus keine Zeit hatten, kam Anton ganz aufgeregt zu seinem Vater. „Papa, hoffentlich ist der Mann auch kastriert“, versuchte der Sechsjährige seine große Befürchtung in Worte zu fassen. Klaus konnte seinem Sohn das zu seinem Bedauern nicht bestätigen.
Und so wurde das Thema der Unterschiede zwischen Mann und Frau und der Fortpflanzung folgerichtig auch bei Emma ausgeblendet.
Klaus versuchte jetzt die Situation zu retten und rief zu Emma:“Schatz, das ist ein japanisches Motorrad. Jetzt komm bitte zum Frühstück.“ “Papi, du lügst, das sind Menschen, die Turnen“, antwortete Emma und kam mit einem kleinen, älteren und stark abgegriffenen Büchlein in den Wintergarten.
Vorne war ein Foto von einem indischen Relief zu sehen, auf dem ein Mann und eine Frau in einer, für den normalen Mitteleuropäer, unfassbaren Verknotung zusammen waren. Darüber prangte verschnörkelt die Schrift: Einführung in das Kamasutra - Leichte Übungen für die reifere Generation.
Andrea nahm Emma sofort das Büchlein aus der Hand, bevor Emma noch weiter blättern konnte oder aber die Jungs Gelüste verspürten, das Büchlein intensiver zu lesen.
“Na gut, Emma, vielleicht sind das ja auch Opa Herberts morgendliche Turnübungen. Aber jetzt wird gefrühstückt“, wurde Klaus etwas deutlicher. Giselas Gesichtsfarbe nahm langsam die Tönung einer abklingenden Gelbsucht an.
Emma erkannte, dass hier etwas faul war und wollte die Situation jetzt auch zu ihren Gunsten ausnutzen. “Dann will ich aber ein Explosionsei!“ forderte sie eigensinnig.
“Na schön“, Herbert gab schuldbewusst sehr schnell nach, “dann machen wir beide eben ein schönes Explosionsei.“
“Aber du machst dann auch die schöne Schweinerei in der Küche wieder weg“, ereiferte sich Gisela.
Explosionsei bedeutete, dass Herbert in einer Pfanne Olivenöl erhitzte. Dann stellte er einen Hocker vor den Herd, auf den Emma klettern musste. In beiden Händen hielt sie jeweils ein rohes Ei. Die Eier wurden ungefähr 1 Meter über der Pfanne zusammengeschlagen, so dass die beiden Eigelb nebst Eiweiß in die zischende Pfanne plumpsten. Wenn Emma Glück hatte, blieb von den Eiern ungefähr 60 % in der Pfanne.
Der Rest spritzte auf die Herdplatte, auf die goldfarbenen Küchenmöbel aus Pinienholz und auf die Erde. Aber die verbliebenen 60 % bildeten dann ein wirklich interessantes Spiegelei - eben ein Explosionsei, wie Emma das Ganze getauft hatte.
Nachdem Herbert die 40 % verspritzte Eimasse auch zur Zufriedenheit von Gisela wieder beseitigt hatte, wurde harmonisch zu Ende gefrühstückt.
2
Andrea, Klaus und die Kinder zogen sich gleich ihre Badesachen an und bekamen von Herbert und Gisela Bademäntel. “Und vergesst nicht, Bademützen aufzuziehen, das ist hier Pflicht“, erinnerte Herbert.
Dann marschierte die Familie zu Fuß mit Badetaschen, Handtüchern und bereits mit Badesachen, Bademänteln und Flipflops bekleidet den Kilometer Straße bis zum Eingang des Thermalbades. Die Höhe des Eintritts schockierte Klaus zwar, denn sie mussten jeder eine Tageskarte kaufen. In Anbetracht seiner bisherigen, sinnlosen Ausgaben, biss er aber die Zähne zusammen und zahlte widerwillig.
Weil die Kinder nicht vom Beckenrand springen durften, hatten sie zwei Tauchringe mitgenommen. Wenigstens das war erlaubt.
Andrea übte mit Emma im flachen Teil des Beckens tauchen und Klaus schwamm mit Emil und Anton in den hinteren, tieferen Bereich.
Das Bad war noch nicht allzu voll, aber es hatten schon einige deutsche Rentner mitbekommen, dass Kesselmanns Besuch hatten. Und so umkreisten nach wenigen Minuten sechs Rentner mit ihren Bademützen Andrea und Klaus, so wie Haie Schiffbrüchige umkreisen.
Letztlich konnten sich Andrea und Klaus schon aus Höflichkeitsgründen einem Gespräch nicht entziehen, und die älteren Herrschaften waren entzückt über die Enkel von Gisela und Herbert. Das gab dann für die nächste Woche wieder genügend Gesprächsstoff in der deutschen Siedlung, und Gisela und Herbert wurden mit Sicherheit mehrmals eingeladen.
Die besten Freunde von Kesselmanns waren Theo und Jutta aus der deutschen Siedlung. Beide waren anfang siebzig und kamen aus dem Rheinischen unweit von Köln. Während Theo seinen Ruhestand genoss, viel las, mit Herbert Boccia spielte und dem herben Landwein frönte, war Jutta anderweitig aktiv. Sie bot Yoga -, Qigong -, und Trommelkurse in ihrem kleinen Bungalow an, führte unausgeglichene Rentner mit ihren Meditationskursen auf den Pfad der Erleuchtung und arbeitete zusätzlich noch als „Warzenbesprecherin„. Für die Zukunft plante sie noch, in die Handleserei zu expandieren.
Hin und wieder war nach ihren Beschwörungen tatsächlich die ein oder andere Warze verschwunden. Und manchmal war nach ihrem Ritual leider auch eine neue Warze erschienen, was Jutta aber wohlweislich verschwieg. Denn die Zahl warzengeplagter Senioren an der Costa Blanca nahm ständig zu. Und so konnte sich Jutta mit ihren Kursen und den Warzenbesprechungen mittlerweile ein erkleckliches Zubrot verdienen. Netto – versteht sich.
Als Klaus und Andrea mit den Kindern im Bad waren, beobachtete Theo Andrea mit Argusaugen.
„Hörma, Mädchen, du jehst aber leeicht unrund“, befand Theo fachmännisch, der nebenbei als Akquisiteur für Jutta arbeitete.
Читать дальше