Die Jungs begannen damit rumzuprahlen, wie viel sie bei ihrem letzten Fußballmannschaftsbesäufnis in sich reingeschüttet hatten. Cool, dachte ich. Megacool. Alle wurden so anders unter dem Einfluss von ein paar Milliliter Ethanol. Als würden sie Masken aufsetzen und für einen Abend jemand anderes sein. Der Lustige, die Fröhliche, der Unbekümmerte, die Glückliche. Oder vielleicht war es ja auch andersrum. Als würde der Alkohol ihre sorgsam aufgesetzten Masken vom Gesicht reißen und ihre unter Verschluss gehaltenen wahren Gedanken und ihre wahre Person zum Vorschein bringen. Gianna stieß mich von der Seite an.“ Los Lu, du musst trinken. Ich habe eine zehn gezogen. Und ich verteile fünf Schlücke an mich und fünf an dich. Prost, Baby!“ Wir stießen die Plastikbecher aneinander und kippten den Becherinhalt hinunter. Der Geschmack brannte auf meiner Zunge. Purer Vodka. Am liebsten hätte ich den Inhalt sofort wieder zurück in meinen Becher gespuckt, aber alle Augen waren auf mich gerichtet. Meine Fingerkuppen wurden langsam taub. Die Bilder in meinem Kopf überlappten sich und verschwammen, wenn ich meine Blickrichtung zu schnell änderte. Und ich lachte und lachte und lachte. Worüber, das wusste ich selbst nicht. Es war, als würde ich einer von ihnen werden.
Dann war ich an der Reihe. Meine Finger fuhren über die Karten, die verstreut auf dem Tisch lagen. Ich zog eine unter einem Stapel hervor, die ganz unten lag. „Lass sehen“, rief Sven mir zu. Es war ein König Herz. „Der vierte König. Volltreffer!“ kreischte ein Mädchen, dessen Stimme ich nicht mehr zuordnen konnte. Alle grölten los. „ Was bedeutet das, der vierte König?“ fragte ich. Ahnungslos blickte ich in die Gesichter, die nicht mehr ganz erkennbar waren. In der Dunkelheit, im Licht der Kerzen sahen sie alle gleich aus.
Sven räusperte sich. „Also, meine Liebe, der vierte König bedeutet den King’s Cup.“ Schon wieder mussten alle lachen. „Das heißt, du musst in diesen Becher“, er deutete auf einen Übergroßen, der in der Mitte des Tisches platziert war, „deinen eigenen Becherinhalt kippen und ihn dann leer exen!“ Hilflos sah ich Gianna an. Doch die stieß gerade ein leises Hicks-Geräusch aus und erweckte auch sonst nicht den Anschein, als sei sie noch Herrin der Lage. Ich biss die Zähne zusammen und füllte den verbliebenen Inhalt meines Bechers in den Riesenbecher, der jetzt bis zum Rand voll war. Ich zögerte. „Komm schon Lu. Wer mitspielt, muss auch mittrinken“, sagte Sven zu mir. Sein Ton klang bitterernst. Dann begannen alle in ihre Hände zu klatschen und zu rufen „Exen, Exen, Exen!“ Auch Gianna. Schließlich griff ich nach dem Becher, setzte ihn an meine Lippen und schluckte das Zeug in einigen schnellen Zügen herunter. Die andern jubelten und applaudierten.
Etwa ein bis zwei Stunden später und ohne einen blassen Schimmer, was in der Zwischenzeit passiert war, fand ich mich über der Kloschüssel auf den Fliesen in Svens Badezimmer wieder. Gianna hielt mir die Haare. „Was ist passiert?“ fragte ich zwischen zweimal Übergeben. „Wir haben ein anderes Spiel angefangen, nachdem du praktisch den Jackpot gelöst hast.“ Sie kicherte. In diesem Moment hätte ich mich am liebsten umgedreht und wäre gegangen. Aber ich hatte keine Wahl. Die Kloschüssel würde noch eine quälend lange Zeit alles sein, was ich zu sehen bekommen würde. „Erinnerst du dich wirklich nicht?“ fragte Gianna mit quiekender Stimme. „Wir haben ‚Wenn ich du wäre‘ gespielt, war richtig lustig und dann hat Sven Chris ausgesucht und gesagt ‚Wenn ich du wäre, würde ich jetzt Lulu küssen, die sieht heute verdammt heiß aus‘ und naja dann habt ihr rumgemacht.“ Ich riss meine Augen auf. „Was? Wirklich?!“ Ich konnte mich an nichts, rein gar nichts erinnern. Es war, als wäre es nie passiert. „Und wie. Sah echt geil aus, wie im Film, richtig mit Feuer, du weißt schon, wenn ich mich richtig erinnere. Meine Erinnerung ist auch etwas verschwommen. Viel Alkohol heute Abend.“
Mir wurde wieder schlecht und ich begann mir die Frage zu stellen, die mich in der kommenden Zeit noch öfters verfolgen würde. Warum trinkt man Alkohol? Wozu soll das alles gut sein? Bestimmt nicht um nachts über einer fremden Klobrille zu hängen und sich die Seele aus dem Leib zu kotzen. Aber was dann? Um unsere Hemmungen zu verlieren? Um erwachsen und cool zu sein? Um glücklich zu sein?
Ich fand keine Antwort.
2A. INNEN/AUSSEN – HAUS/AUTO – TAG
„I heard that you like the bad girls, Honey, is that true?”
Die Musik meines Handyweckers riss mich aus dem Schlaf. Das Display zeigte 7:30. Viel zu früh. Ich zog die Bettdecke über meinen Kopf. In den letzten Tagen hatte ich nie einen Fuß vor elf vor das Bett gesetzt. Noch halb im Schlaf schaltete ich das Lied aus und quälte mich aus dem Bett. Ich öffnete die Türen meines Kleiderschranks. In der vergangenen Woche hatte ich kaum klar denken können, noch weniger hatte ich mir Gedanken über mein Aussehen gemacht. Mit ein bisschen Make-Up brachte ich es fertig, meinem Gesicht eine halbwegs gesunde Farbe zu verleihen. Beinahe war ich stolz auf mich. Ich sah fast normal aus. Wie früher. Ich würde Jürgen schon davon überzeugen können, dass das hilflose Mädchen von gestern mit dem verschmierten Make-Up und den Tränen in den Augen eine andere gewesen war. Ein böser Traum. Oder zumindest im Ausnahmezustand.
Die Küche war leer. Meine Mutter war schon weg. Ich stellte das Radio an, um die Stille zu übertönen. Am Kühlschrank hing ein Blatt Papier. Ich warf einen Blick drauf. Es war ihre alberne Lebenskurve. Jeden Tag trug sie fein säuberlich darauf ein, wie es ihr ging. Die y-Achse zeigte den Monat in Tagen an und auf der x-Achse gab es drei Smileys, einer lächelte, einer hatte einen Strichmund und einer hatte die Mundwinkel nach unten verzogen. Irgendwo dazwischen markierte meine Mutter jeden Morgen einen sogenannten Stimmungspunkt. Heute lag er irgendwo zwischen dem lächelnden und dem Strichmundsmiley. Ich fragte mich, was diese Aufzeichnungen für einen Sinn haben sollten. Hätte ich eine Lebenskurve, so wäre sie seit Jahren im Sinkflug. Wie ein abstürzendes Flugzeug, das immer weiter an Höhe verliert, sich noch eine Weile in der Luft halten kann, bis es schließlich in den Abgrund gerissen wird.
Als ich die Wohnung verließ, wartete Jürgen schon vor der Tür in seiner Protzkarre. Er hupte. Er hatte es wohl eilig. Während der Fahrt trommelte er mit seinen Fingern unruhig auf dem Lenkrad. Er tat das immer, wenn er unter Druck war. Ich wusste, dass er zurzeit mit dem Dreh für eines seiner unzähligen Projekte beschäftigt war. Ich hatte es in der Zeitung gelesen. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe. Zwischen uns herrschte Stille. Einer dieser stillen Momente, wo man besser den Mund hält, denn alles, was man sagen würde, wäre sowieso nur falsch.
„Macht‘s dir was aus, wenn wir bei mir im Büro frühstücken?“ brach Jürgen schließlich das Schweigen. „Wo arbeitest du momentan?“ fragte ich. Hoffentlich fiel ihm der desinteressierte Unterton in meiner Stimme nicht allzu sehr auf, aber es fiel mir schwer allzu freundlich zu sein. „In Köln Ossendorf. Für eine neue Produktion wurde ein ganzes Studio für drei Monate angemietet. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.“ Ich nickte. „Bist du deshalb wieder zurück?“ „Ja, unter anderem.“ Konzentriert blickte er auf die Straße, als er das sagte. Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Weil er ganz genau wusste, dass er mich im Stich gelassen hatte. Sein einziges Kind. Zumindest das einzige, von dem ich wusste. Vielleicht hatte er ja noch ein paar uneheliche Kinder, die er geheim hielt. Würde zu ihm passen. Ich hatte nicht einmal Lust, zu fragen, um welchen Film es diesmal ging. Oder überhaupt etwas zu sagen. Ihm schien es ähnlich zu gehen. Wir bewegten uns auf dünnem Eis und ich wusste genau auf welches Thema wir zusteuerten. Schritt für Schritt. Doch ich würde behutsam über das Eis gleiten, das Einbrechen so weit herauszögern, wie es möglich war. Stumm blickte ich aus dem Fenster.
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