Nur auf Grund dieser Fähigkeit, die Schliche seiner Häscher zu durchschauen, war es ihm gelungen zu überleben. SIE hatten ihm das Leben zu Hölle gemacht, aber SIE hatten es ihm nicht nehmen können. Darauf war er stolz.
Manchmal, in den klaren, kalten Nächten der Wüste, stand er vor dem Eingang seiner Höhle und schaute hinauf zum Firmament. Dort oben, so hatte man ihn gelehrt als er zehn oder elf Jahre alt war, gab es Millionen riesige Steinklumpen ähnlich seiner Welt. Er wünschte sich dann zum Himmel blickend, auf einer dieser fremden Welten allein und in Frieden leben zu können. Dort wäre er dann wirklich unerreichbar für seine Verfolger. SIE würden hier auf der Welt hocken, mit verkniffenen, wutentbrannten Gesichtern zu den Sternen aufblicken und ihre Fäuste gen Himmel schütteln. Aber erreichen würde ihn dort oben niemand mehr.
Jetzt aber war er auf dem Weg zurück zu seiner Höhle. Immer wieder wandte er den Blick nach Osten, der Richtung aus der er gekommen war. Von dort würden seine Verfolger kommen. SIE lauerten in den Schatten der Sanddünen, die in westlicher Richtung wanderten. Flach, schlangengleich bewegten SIE sich vorwärts und glaubten, er sähe SIE nicht. Aber SIE konnten ihn nicht täuschen.
Er umging den Eingang zu der Höhle im Wüstensand zunächst in einem weiten Bogen, denn er hoffte, seine Verfolger abschütteln zu können, zumal ein leichter Sturm von Osten her aufkam. Immer wenn es stürmte, konnte er seinen Gegnern entfliehen. Er konnte dann zeitweise sogar über die Angst lachen, die er sonst vor seinen Verfolgern empfand. Aber wenn der Sturm abklang, kamen zuerst Kopfschmerzen und dann auch die Angst zurück.
Als er sich jetzt umwandte, waren die Verfolger verschwunden. Aber vielleicht hatten SIE sein Manöver bemerkt und nur den direkten Weg zur Höhle gewählt. Dort erwarteten SIE ihn nun möglicherweise mit scharfen Schwertern und spitzen Speeren bewaffnet. Er wusste, SIE hatten Waffen aus einem besonderen Stahl. Ein Hieb mit der Klinge eines IHRER Schwerter, würde ihn sofort längs mittendurch teilen. Diese Vorstellung ängstigte ihn besonders. Er stellte es sich entsetzlich vor, wenn einer der Häscher sein gigantisches Schwert hob, auf ihn niedersausen ließ, und er dann zur Hälfte nach links und zur Hälfte nach rechts in den Sand kippte, während sein Blut aus ihm herausströmte und versickerte. Seine Eingeweide würden aus ihm herausquellen, und bald schon kämen die Tiere der Wüste, die er so oft verspeist hatte, um sich nun ihrerseits an ihm gütlich zu tun.
Er hasste diese Vorstellung. Doch manchmal überfiel sie ihn sogar nachts. Denn hörte er Stimmen und das Trappeln von schweren Stiefeln vor dem Höhleneingang.
In solchen Nächten war er schweißgebadet. Er fürchtete, wahnsinnig zu werden, wenn SIE ihn nicht endlich in Frieden ließen. Diese Furcht war völlig unbegründet, denn er war es bereits seit dem entsetzlichen Tod seines Vaters.
Der Gute Träumer hatte den größten Teil seines Weges von Toulux nach Asgood bei herrlichem Frühlingswetter zurückgelegt. Oftmals schien es geradezu so, als wäre die Sonne eine Verbündete im Kampf gegen den Traumlord. Doch just an jenem Tag als er die Stadttore von Asgood durchschritt, sein Pferd am Zügel hinter sich führend, goss es wie aus Kannen. Große Tropfen prasselten vom Himmel herab, der schwarz war wie der Deckel eines Sarges. Die Tropfen hatten sich in den Straßen der Stadt zu Seen und Sturzbächen vereinigt. Traufen liefen wie Wasserfälle von den Dächern. Es regnete Blasen und gerade als Michael einen trockenen Unterstand fand, setzte ein Hagelschauer ein. Die Eiskörner, die nun auch noch vom Himmel herunterprasselten, hatten teilweise die Größe von Taubeneiern.
Unter der Markise, die sich der Gute Träumer als Unterschlupf gewählt hatte, standen noch weitere Menschen. Die meisten von ihnen waren ärmlich gekleidet. Alle aber, auch die, die offenbar einen etwas besseren Stand besaßen, blickten apathisch in den Regen, als hätte das schlechte Wetter magische Kräfte, die ihre Seelen lähmten. Aber Michael wusste es besser. Es lag nicht am Wetter. Dies waren allesamt Menschen, denen man ihre Träume geraubt hatte.
Noch nie hatte der Gute Träumer eine solche Ansammlung von Traumlosen auf einem Haufen gesehen. In Ramos gingen die Leute selten aus, und wenn, so landeten sie allesamt im Wirtshaus. Dort aber saß jeder allein an einem Tisch und starrte stumpfsinnig in sein Glas, egal ob dieses voll oder schon leer war.
Man spürte sofort, dass man in einer großen Stadt war. Es gab so viele Menschen, dass sie sich nicht aus dem Wege gehen konnten. Sie mussten aufeinandertreffen, selbst unter den gegebenen Umständen.
Michael lugte unter seinem Unterstand hervor, um sich ein wenig zu orientieren. Für ihn kam es zunächst einmal darauf an, ein Wirtshaus zu finden, wo er für die Nacht ein Lager bereitet bekam. Ausgeruht wollte er sich am nächsten Tag auf den Weg machen, um den geheimnisvollen Stern zu finden, der in den Mauern dieser Stadt verborgen sein sollte. Kaum hatte Michael die Nasenspitze unter der Markise hervorgesteckt, da warf ihm ein heftiger Windstoß einen Schwall Wasser ins Gesicht, der mit Eiskörnern vermischt war. Der Gute Träumer schloss in einem Reflex die Augen und zog sich wieder einen Schritt zurück. Es würde ihm nichts weiter übrig bleiben, als abzuwarten, bis sich das Wetter endlich wieder besserte.
Die Markise, die dem Guten Träumer und den anderen Menschen an seiner Seite als Schutz vor dem Regen diente, gehörte zu einem Laden, dessen Besitzer mit Tuchen und Stoffen handelte. In den Auslagen wetteiferten kostbarer Brokat, feine Seide und derbe, unverwüstliche Wollstoffe um die Gunst der Kunden. Der Ladenbesitzer stand hinter seinen Auslagen und blickte hinaus in den Regen und auf die Menschenansammlung vor seinem Geschäft. Er war ein schmächtiges Männchen, das ein heftiger Regen wie der heutige im Rinnstein davongespült hätte. Seine Lider lagen wie alte Säcke halb über seinen Augen, was ihm einen schläfrigen Ausdruck verlieh. Von den Mundwinkeln strahlten scharfe Falten des Missmutes ab. Sein Geschäft litt offensichtlich unter der Herrschaft des Traumlords. Träume von Schönheit und neuer Mode gab es nicht mehr. Wen interessierten da die Auslagen eines Tuchhändlers. Selbst jetzt, wo sich viele Menschen unter der Markise drängten blickte keiner in Richtung des Ladens außer dem Guten Träumer.
Michael entschloss sich, den Laden zu betreten und nach einem Wirtshaus zu fragen. Es mochte sein, der Händler wies ihn schroff ab, wenn er erfuhr, dass Michael nichts kaufen wollte, aber er war wenigstens nicht so apathisch wie die Menschen, die ihn gerade umstanden.
Als Michael den Laden betrat, schellte eine feine Glocke in einem der Hinterzimmer. Dies war im Augenblick natürlich völlig überflüssig, denn dienstbeflissen stand der Ladenbesitzer seinem mutmaßlichen Kunden sofort gegenüber. Plötzlich trug er ein feines Lächeln zur Schau, als sei es für ihn die größte Freude des Tages, Michael gegenüber zu stehen. In Anbetracht der Geschäftslage mochte dies vielleicht sogar zutreffen.
„Guten Tag, edler Herr, was kann ich für euch tun“, sagte der Ladenbesitzer mit einer Stimme, die an das Krächzen eines Raben erinnerte.
„Ich bin fremd in der Stadt und suche ein Quartier. Könnt ihr mir mit einer Auskunft behilflich sein?“ Michael erwartete bereite eine schroffe Erwiderung der Art, man sei keine Auskunftei und habe auch keine Gastwirtschaft, doch zu seiner Überraschung lächelte der Ladeninhaber und sagte: „Ich rate euch zur Pension ‚Zur Quelle‘. Sie ist gut und der Preis ist nicht hoch. Für nur einen halben Taler könnt ihr dort übernachten und erhaltet ein reichliches Frühstück.“
„Ich danke euch für diese Auskunft. Wie finde ich die Pension?“
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