1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Der Gute Träumer wurde zusammen mit seinem Pferd ins Wasser geschleudert. Er landete keinen Steinwurf von dem gewaltigen Schlangenkörper entfernt im Askar, der noch winterlich kaltes Wasser führte.
Sofort versuchten Pferd und Reiter das rettende Ufer zu erreichen, während die Schlange den Fluss mit ihrem zuckenden Körper in einen reißenden Malstrom verwandelte.
Wasser schlug über dem Guten Träumer zusammen. Mit verzweifelten Schwimmbewegungen versuchte er, wieder die Oberfläche zu erreichen, doch schon schlug die nächste Welle über ihm zusammen. Was aber noch bedrohlicher war, war der gewaltige Schlangenkörper, der sich wie eine Walze beständig näher heranschob.
Wie die Seiten einer riesigen Enzyklopädie durchsuchte der Gute Träumer seine Gedanken nach einem rettenden Einfall. Dies war ein verdammt feuchter Traum, und solche Träume hatten dem Guten Träumer noch nie besonders behagt. Dann erinnerte er sich an die Delphine und Augenblicke später erschienen sie. Es waren mehr, als er erwartet hatte. Sie füllten den Fluss plötzlich aus wie eine übermäßige Menge Sago eine Suppe. Beinahe hätten sie, die sie zur Rettung herbeizitiert worden waren, verhindert, dass Michael zurück zur Oberfläche fand. Aber der Gute Träumer verstand auch, dass er instinktiv richtig gehandelt hatte, als er eine solche Unmenge von Delphinen herbeiträumte, denn nur dadurch konnte die riesige Wasserschlange in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt werden.
Die Delphine drängten den Guten Träumer und sein Pferd aus dem Fluss heraus, schirmten ihn von der tobenden Schlange ab, die die Meeressäuger legionenweise unter sich begrub. Das Wasser des Askar färbte sich tiefrot vom Blut der zermalmten Delphine, doch Michael erreichte das rettende Ufer. Dann war der Spuk in wenigen Augenblicken verschwunden. Die Schlange vernichtete noch tausende Delphine, dann war sie einfach weg. Und auch die Delphine verschwanden, lösten sich scheinbar in Luft auf. Nur ihr Blut blieb im Askar zurück.
Dieses Blut würde dem Guten Träumer in den Fluten des Askar vorauseilen. Es nahm seinen Weg durch die engen Stromschnellen im Gebirge der Stadt Asgood zu, und sollte dort jemand ein Bad im Fluss unternehmen, was kaum glaubhaft schien, wäre dies ein Blutbad im wahrsten Sinne des Wortes.
Michael zuckte bei diesem Gedanken erschrocken zusammen. Deshalb wandte er sich vom Anblick des roten Wassers ab, nahm sein Pferd am Zügel und führte es ein wenig vom Ufer weg, wo er rasten wollte, denn die gerade noch glimpflich überstandene, neuerliche Attacke des Traumlords hatte an seinen Kräften und seinem Mut gezehrt. Außerdem war er durchnässt und fror, denn obwohl die Sonne frühlinghaft warm schien, war das Wasser des Flusses noch eisig gewesen. Es war größtenteils Tauwasser aus den hohen Gebirgen im Westen.
Michael suchte sich einen windgeschützten Platz am Rande einer Baumgruppe, entfachte dort ein Feuer und zog sich die nassen Kleider vom Leib. Er zitterte ein wenig. Um sich zu erwärmen, schlug er die Arme um den Körper zusammen, als wolle er Fliegen vertreiben. Er hüpfte ein wenig ums Lagerfeuer wie Rumpelstilzchen und kam sich höchst lächerlich vor. Hätte ihn in diesen Minuten jemand gesehen, wäre dieser gewiss nicht auf den Gedanken gekommen, den Retter des Reiches vor sich zu haben. Eher hätte er ihn für einen bedauernswerten Geistesgestörten gehalten, wie man sie jetzt im Reich öfters antraf.
Zwei Stunden später waren die Kleider des Guten Träumers wieder trocken genug, um sie anzuziehen. Zu seinem Leidwesen hatte er feststellen müssen, dass er beim Sturz ins Wasser seinen gesamten Proviant eingebüßt hatte. Es war ihm auch nicht möglich, etwas Essbares herbei zu träumen, also saß er mit knurrendem Magen am Feuer und hoffte, Asgood so bald wie möglich zu erreichen.
Noch immer wusste er nicht, was er eigentlich suchen sollte. Folglich hatte er auch nicht die geringste Vorstellung davon, wo er mit der Suche beginnen wollte.
Michael entrollte einmal mehr die Karte und ließ seine Blicke über die gezeichneten Höhenzüge und Täler des Reiches schweifen. Er entdeckte Ramos, sein Heimatdorf im äußersten Nordwesten. Toulux lag östlich von Ramos. Nachdem er den Weisen Stephan verlassen hatte, war sein Weg tatsächlich fast konstant nach Süden verlaufen. Nur selten hatte er geringen Schwenken des Weges folgen müssen. Auf der Karte war auch das merkwürdige Dorf verzeichnet, wo der Händler Mikos ihm diese Karte verkauft hatte. Es hieß Xenos. Mehr erfuhr man auch von der Karte nicht. Als sie gezeichnet worden war, hatten vermutlich noch viele Menschen in Xenos ihr Zuhause gehabt. Nur der Wind, der durch die Maisfelder fuhr, wusste, wo sie geblieben waren, aber er verriet es nicht. Er spielte ihm raschelnden Mais und sang sein altes, stets gleichbleibendes Lied.
Der Wald der ewigen Finsternis war auf der Karte mit einem Zeichen versehen, das in der Legende als Warnzeichen ausgewiesen war. Es empfahl, dieses Gebiet nur bei Tage zu betreten.
‚Ein nützlicher Hinweis‘, dachte der Gute Träumer.
Die Brücke über den Askar musste nun von den Karten, die in Zukunft vom Reich gezeichnet wurden, getilgt werden, es sei denn, es fand sich in der Zukunft ein guter Baumeister, der eine neue Brücke errichtete.
Bis Asgood lag noch etwas mehr als eine Tagereise vor dem Guten Träumer. Er sah auf der Karte, dass es im Osten von Asgood ein Felsmassiv gab, dessen der Stadt zugewandte Seite stark abfiel. Direkt von diesem Felsplateau blickte ein Schloss über die Stadt und die Ebenen, die in drei Himmelsrichtungen an Asgood anschlossen. Wer dort oben stand und von den Zinnen hinabblickte, konnte gewiss mehr als eine Tagereise weit ins Land schauen. Hatte er ein Fernglas, so sah er den Guten Träumer, sobald er das kleine Gebirge passiert hatte, dass der Askar durchschnitt. Michael hatte die vage Vermutung, dass der Stern von Asgood dort auf dem Schloss sein könnte. War dem wirklich so, hätte er im Mittelpunkt der Welt nicht sicherer sein können als dort.
Daran, was ihn erwarten würde, wenn er Asgood verließ, wollte der Gute Träumer gar nicht erst denken. Wenn er die riesige Wüstenregion betrachtete, die sich auf der Karte südöstlich von Asgood ausbreitete, befiel ihn eine lähmende Angst. Er zweifelte, dass er genügend Mut aufbringen würde, diese Wüste zu durchstreifen, wenn er allzu lang über seine Erfolgsaussichten nachgrübelte.
Er lenkte den Blick zurück zur Stadt Asgood. Er dachte, dass es in jeder größeren Stadt einen Markplatz gab, der nicht nur alle Arten von Krämern beherbergte, sondern auch die Heimat aller Gerüchte, Sagen und Legenden einer Stadt war. Wenn es Menschen in Asgood gab, die über den gesuchten Stern Auskunft geben konnten, würde er sie auf dem Markt finden. Natürlich musste er Vorsicht walten lassen, denn schließlich hatte der Traumlord seine Spione vermutlich überall. Jemand der nach dem Stern von Asgood fragte, musste auffallen. Man würde ihn packen und hinter sieben Türen mit jeweils sieben Schlössern in ein finsteres Verließ werfen, wenn er sich nicht genügend vorsah. Oder man würde ihn aus einem Hinterhalt heraus umbringen. Wer konnte das wissen?
Der Gute Träumer rollte die Karte zusammen, löschte das Feuer mit Erde (er hatte keine besonders große Lust, hinab zum Fluss zu gehen und Wasser zu holen) und bestieg sein Pferd. Aller Dinge verlustig, die in den Satteltaschen gewesen waren, aber mit ungebrochenem Willen zum Sieg machte er sich auf den Weg nach Asgood, wo seine Mörder ihn erwarteten.
Nana musste man keine Träume nehmen. Sie hatte sie mit ihren Söhnen verloren.
Sie war eine Frau von Anfang fünfzig, klein, rundlich, mit einem rosigen Gesicht, das an ein gut genährtes Ferkel denken ließ. Man sah ihr die Trauer nicht an, die sich wie ein eisernes Band um ihr Herz geschlossen hatte.
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