»Artemesea, die du der Mond und das Licht bist, die du das Leben und die Kraft bist. Artemesea schenke uns die Gnade deiner Gegenwart, schütze die, die dir dienen und deinen Namen preisen, helfe denen, die auch dir helfen. Stärke unseren Glauben und unseren Mut, gib uns Zuversicht und Gnade. Lasse deine Feinde erzittern und ihren Mut schwinden. Wir, deine Anhänger, werden deinen Ruhm mehren und Worte der Welt verkünden.«
»So sei es«, lautete die rituelle Antwort auf die Anrufung. Das Zeichen der Göttin wurde mit dem Zeigefinger und dem Mittelfinger auf die Brust von Hagen gezeichnet. Kleine blaue Linien waren zu erkennen, die langsam verblassten. Hagen spürte die Kraft, die ihn berührte, kannte das Gefühl, mit der die Anstrengung des Tages von ihm genommen wurde.
»Danke Artemesea!« Uhra sprach noch einige eigene Worte, leise murmelnd, selbst der Nordländer hatte Schwierigkeiten, dem Inhalt zu folgen, es ging wohl um Vertrauen und die Bitte um Führung.
Nach einem weiteren Segen erhob sich Uhra, verstaute die Utensilien in einer kleinen Tasche, die in einer der Satteltaschen verschwand. Normalerweise um Mitternacht abgehalten, musste diese frühere Stunde heute genügen.
Das Abendessen war karg. Doch niemand beschwerte sich. Wachen wurden eingeteilt, das Feuer gelöscht, die Pferde versorgt und kurz über das Etappenziel für den morgigen Tag gesprochen. Es herrschte Einigkeit über ein schnelleres Reisen, das nächste Frühstück gab es daher auf dem Rücken der Pferde. Es sollte möglich sein, die Stadt Raschangys am nächsten Abend zu erreichen, aber nur wenn sie es schafften, zügig voranzukommen.
Die Stadt galt als das Zentrum für Stoffe in einem Umkreis von mehreren Wochen Reise. Alle bedeutenden Tuchhändler aus Calaman hatten hier eine Niederlassung, meist sogar ihren Stammsitz, und es waren gute Stoffe, die hier produziert wurden. Schon der Rohstoff wuchs auf weiten Ebenen, die sich sanft über das flache Land ausbreiteten. Viel Sonne und ein stetiger Wind aus Norden von den Bergen boten ein ideales Klima. Der Anblick der Felder begleitete sie den ganzen Tag, endete auch nicht, als die Freunde das Lager für die Nacht aufschlugen.
Nyander war der Erste, der wachen sollte. Als alle sich zur Ruhe begeben hatten, fand auch er die Gelegenheit, mit seiner Zweililie zu üben. An der Seite von Tarkess, seinem Pferd, war sie die meiste Zeit in ein Tuch mit Rankenmuster und Blüten, gewebt von seiner Mutter, verhüllt, doch er wusste, er musste regelmäßig die Bewegungen üben, wollte er nicht langsam werden. Viele der Abläufe waren ihm ins Blut übergegangen, er wurde eins mit der Waffe, aber wenn er längere Zeit nicht trainierte, spürte er, wie die Geschmeidigkeit und die Präzision verloren gingen.
Langsam löste er die Verschnürung um das Tuch, legte Tuch und Lederbänder sorgsam zur Seite, entfernte sich einige Schritte vom Lager.
Der Rest der Gruppe sollte nicht gestört werden, sie brauchten alle ihren Schlaf, ihre Erholung.
Langsam, so als hätte er die Waffe noch nie in der Hand gehabt, drehte Nyander sie in seinen Händen. Ruhig und bedächtig zuerst, dann schneller drehte sich die Zweililie, bildete ein Rad aus Klingen, der Halbelf verlor das Gefühl dafür, wie lange er hier schon stand. Seine Hände vollführten die Drehung, erst vor dem Körper, dann an den Seiten, über dem Kopf, letztendlich überall.
Ein Geräusch war zu hören. Nyander verharrte in seiner Position und lauschte. Als ob Metall auf Leder reibt, hatte es geklungen.
Der Halbelf veränderte seine Position. Mit lautlosem Schritt näherte er sich dem niedrigen Kamm, der von der Baumgruppe aus parallel zum Flussufer in Richtung Norden verlief. Kein weiteres Geräusch war zu hören. Den Blick einmal in die Runde schweifend, ließ Nyander weitere Sekunden verstreichen, wartete auf die Wiederholung des Geraschels in der Hoffnung, es würde die Position verraten. Einige Sekunden verstrichen, aber es blieb still. Links standen die Pferde, ruhig, nicht mal ein Ohr war als Zeichen von Unruhe aufgestellt. Vorsichtig schaute er über die Kante. Nichts. Fünfzig Meter weiter lag die Straße verlassen und still.
Zur Sicherheit umrundete er das Lager zwei Mal, in verschiedenen Abständen und entgegengesetzten Richtungen, und nachdem er nichts und niemanden fand, entspannte er sich wieder, verbrachte den Rest seiner Wache in Ruhe, versuchte zu meditieren.
Nur halb zufrieden mit seiner Leistung sich zu entspannen, weckte er Gwen. Sie schaute ihn an, erkundigte sich, ob etwas gewesen sei.
»Nein, alles in Ordnung.«
»Dann schlaf gut, bis morgen.«
Der verdiente und auch benötigte Schlaf wollte sich nicht gleich einstellen. In seinem Kopf malträtierte ihn die Frage, was wohl in den nächsten Tagen auf sie wartete, wer auf sie wartete. Irgendwann, kurz bevor Gwen den Elfen zu seiner Wache weckte, schlief der Halbelf endlich ein.
Die Sonne brachte drückende Wärme. Obwohl es schon in den Spätsommer ging, war auf den weiten Ebenen rund um Raschangys noch nichts davon zu spüren. Die Felder, die sie an diesem Tag passierten, waren voll mit Flachs und Baumwollsträuchern. Die Ernte war in vollem Gange, Dutzende von Landarbeiterinnen waren auf den Feldern unterwegs. Große Wagen, auf denen der geschnittene Flachs gesammelt wurde und sich Baumwolle, zu Ballen gebunden, stapelte. Karawanen mit bunten Wagen, angefüllt mit Ballen feinster Stoffe, in grellen Farben, mit exotischen Mustern, kamen ihnen entgegen.
»Nehmen wir uns eine Herberge?«
»Ja, würde mir gut gefallen und ein Bad. Der Staub der Straße ist in jeder Ritze.« Der Halbelf klopfte gegen seine Hose, was eine kleine Staubwolke erzeugte.
»Wir sollten besser überlegen, welche Geschichte wir erzählen, wenn uns einer fragt. Nicht, dass wir alle etwas Anderes erzählen.«
»Stimmt, Uhra sag was dazu und überleg dir auch, ob du deine Robe ablegst!«
»Ich soll was tun?« Uhra konnte als letzter in der Reihe reitend nicht alles mitbekommen, was gesprochen wurde, aber dass er seine Robe, die ihn als Priester Artemeseas ausgab, ablegen sollte, hatte er gehört.
»Ich werde meine Göttin nicht verleugnen!«, empörte er sich.
»War nur so eine Idee, wir würden damit vielleicht neugierige Augen von uns ablenken, vor allem, wenn wir nicht zu fünft in die Stadt einreiten.«
»Nyander hat recht. Uhra, wenn es wirklich wahr ist, dass wir verfolgt oder erwartet werden, sind wir als fünf Reiter, unter ihnen eine Frau, leicht auszumachen. Auch dein Gewand ist ein deutlicher Hinweis. Keiner will, dass du deine Göttin leugnest, es wäre nur gut, wenn du dich ein wenig unauffälliger kleiden könntest.«
Uhra machte ein unglückliches Gesicht. Er wusste, dass seine Freunde Recht hatten, aber er trug die Zeichen seiner Göttin seit so vielen Jahren offen und für jeden sichtbar, dass es ihm schwer fiel, sie abzulegen. Andererseits: Ungewöhnliche Umstände erforderten ungewöhnliche Maßnahmen, das musste er zugeben.
»Ich denke mir was aus. Und ich denke es ist klug, wenn wir uns trennen. Wer geht mit wem?«
Nach kurzer Diskussion einigte man sich, dass Gwen mit zwei Begleitern weiterreisen würde. Uhra und Nyander sollten es sein. Der Halbelf würde versuchen, seine spitzen Ohren zu verbergen und als normaler Mensch durchzugehen. Hagen und Adderlin würden später folgen.
Da keiner der Freunde innerhalb der letzten zehn Jahre in der Stadt gewesen war, hatten sie noch keine Idee, wo sie sich treffen würden. Keiner kannte den Namen einer guten Herberge oder Taverne. Und wo gab es entsprechende Geschäfte?
Sie sprachen kurz über die Dinge, die sie brauchten. Neben eigener Nahrung war dies Futter für die Tiere und Brennholz, einige zusätzliche Wasserschläuche oder Trinkflaschen, Verbandmaterial und einen Zunderkasten. Nach dieser Beratung machten Hagen und der Elf eine längere Rast, während sich die drei verbliebenen Freunde auf den Weg nach Raschangys machten.
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