Der Elf verspürte eine innere Unruhe, die er so schon lange nicht mehr empfunden hatte. Er musste mit Uhra sprechen, musste ihm dringend sagen, welche Unruhe ihn umtrieb. Morgen, gleich morgen, wenn sie wieder auf dem Rücken der Pferde unterwegs sein würden, würde er mit dem Priester reden.
Zwei Stunden Wache verliefen ohne Auffälligkeit, doch die Unruhe des Elfen wollte sich nicht legen. Noch etwas mehr als eine Stunde, dann würde die Sonne aufgehen, Gwen, die eigentlich an der Reihe war, sollte ruhig schlafen.
Da sie kein Holz für ein Feuer besaßen, aßen sie kurz nach Sonnenaufgang nur etwas Obst und Brot, welches vom Abend noch übrig war. Die Magierin beschwerte sich halbherzig beim Elfen. Er solle gefälligst auch seinen Schlaf bekommen. Sie wollte nicht bevorzugt werden, sagte sie, knuffte den Elfen aber freundschaftlich in die Seite, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie seine Geste zu schätzen wusste.
»Welchen Weg hast du dir überlegt, Uhra?«
Die Sonne war vor einer halben Stunde über den Horizont gekrochen, es wurde wärmer. Einzelne Fuhrwerke und Personen zu Fuß, meist bepackt mit Waren für den Verkauf, waren die stetigen Begleiter auf der Straße nach Norden. Meist kamen sie ihnen entgegen.
»Ich bin mir noch nicht darüber im Klaren. Wenn wir so weiter nach Norden reisen, werden wir durch den großen Wald und später über die Berge müssen. Ich weiß nicht, welchen Pass wir nehmen werden. Es sei denn, wir machen einen Bogen um die Berge nach Mordudrin und dann nach Osten in Richtung Baskyton. Auch dann müssen wir durch Berge, die sind aber nicht so hoch, und es führt eine Handelsstraße in Richtung Wynd.«
»Der Bogen ist aber ganz schön groß, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Es wird uns mindestens zwei Wochen kosten.« Hagen war offensichtlich nicht von der Idee begeistert. »Gut, dann ist die andere Möglichkeit die, dass wir dem Calamer folgen, eine andere Brücke oder Furt nehmen. Weiter dann in Richtung Osten, an den Bergen entlang. Später werden wir dann erneut einen Fluss überqueren müssen, den Anthequar, aber das sollte kein Problem sein. Dann Richtung Nordosten und über die Berge.«
»Ist wohl der kürzeste Weg. Spricht irgendetwas dagegen?« »Wenn wir verfolgt werden, könnten wir sie im Wald besser abhängen oder umgehen!« Der Elf natürlich!
»Ja, wenn ich Uhra richtig verstanden habe und wir nicht auf einer Vergnügungsreise sind, ist unser größtes Problem nicht der noch unsichtbare Feind, sondern die Zeit, stimmt’s?«
»Ja, die Zeit ist die kritische Komponente. Ich weiß nicht, wie viel wir haben, ob wir überhaupt genug haben. Aber wir können es uns nicht leisten, Zeit durch Umwege zu verlieren.« »Dann ist es ja klar«, rief Gwen über ihre Schulter. »Wir gehen nach Osten und dann nach Norden. Wenigstens werden wir genug Städte und Dörfer finden, um vorerst nicht mit zu viel Gepäck reisen zu müssen – auf geht’s.« Mit diesen Worten gab sie Ihrer Stute die Fersen, beschleunigte in einen leichten Galopp.
Die anfängliche Anspannung wich einer unterschwelligen Ruhe. Eine Stimmung zwischen Hoffen und Verdrängen, bemächtigte sich der Freunde.
Zur Mittagspause erreichten sie ein kleines Dorf mit zwei Dutzend Häusern und einem Wirtshaus. Die Leute hier waren nicht arm, denn die nahe Hauptstadt sorgte für einen stetigen Strom an Reisenden, Händlern und Einheimischen. Auch jetzt zur Mittagszeit war im Schankraum kein Platz mehr zum Sitzen, doch der Wirt hatte sich darauf eingerichtet und einige, wenn auch eher klapprige Bänke draußen unter einen nahen Baum gestellt. Ein junger Mann versorgte die Gäste mit Getränken, durch ein Fenster in der Küche wurden die Speisen verteilt.
Ein Eintopf und frisches Brot waren schmackhaft und sättigend, auch wenn das warme Essen in der spätsommerlichen Wärme zu einigen Schweißperlen führte. Frisches Wasser und gekühltes Bier entschädigten dafür, der Wirt besorgte außerdem Heu, Möhren und Gerste für die Tiere.
Nach nur einer halben Stunde waren sie erneut unterwegs, gingen diesmal einige Zeit zu Fuß, für die Verdauung und um die Pferde nicht schon am ersten Tag zu überanstrengen.
Nach einer Stunde des Fußmarsches aber wurde Uhra wieder von der Unruhe gepackt, und sie bestiegen die Pferde. In einem schnellen Trab ging es weiter Richtung Nordosten, dem Fluss entlang, stromaufwärts. Fuhrwerke, die größere Flösse den Strom entgegen treidelten und Lastkähne, die flussabwärts unterwegs waren, boten eine willkommene Abwechslung.
Die Mittagshitze verbunden mit der schwülen Luft des Flusses machte ihnen zu schaffen, doch sie gönnten sich nur eine kurze Pause, verbrachten wenige Minuten im Schatten einer Baumgruppe, ließen die Pferde im Fluss saufen. Der Bedarf an Wasser war groß, die paar Schläuche, die sie mit sich trugen, hätten ohne den nahen Fluss als Reserve nicht ausgereicht. Man würde in der nächsten Stadt oder auf dem nächsten Markt noch einige Trinkschläuche dazu kaufen müssen.
Am Abend fanden sie einen flachen Platz unweit des Flussbettes, nur zwanzig Schritte vom Wasser entfernt. Die Pferde wurden mit Seilen angebunden, so dass sie noch bis ins Wasser gehen konnten. Hagen machte ein kleines Feuer aus trockenen Zweigen und etwas Gras.
Als die Sonne den Horizont berührte, kam ein Wind auf, der erfrischend über das Land zog. Eine Plane diente als Schutz vor Staub, den die stärker werdende Brise aufwirbelte.
Nyander versuchte, ein paar Fische, die im Wasser zu sehen waren, zu fangen, mit wenig Erfolg. Eine einzelne mittelgroße Forelle war die Ausbeute. Der Halbelf warf sie wieder in den Fluss, sie würde für niemanden reichen und nur um ihn ins Feuer zu halten war der Fisch zu schade. Durch das Fischen nass und erfrischt, half er seinen Freunden beim Verteilen des Essens.
Nach dem Mahl waren die anderen an der Reihe, sich zu waschen. Das gefühlt kühle Wasser wurde zu einem Badespaß, bei dem sogar Uhra für einige Minuten seine Sorgen vergaß, erst der Blick zum Ufer, zum Sattel mit dem Artefakt machte ihm schlagartig bewusst, dass dies keine Vergnügungsreise war.
Adderlin stand im seichten Wasser und hielt beide Schwerter kampfbereit. Langsam vollführte er Bewegungen, die wie Figuren aus einem dem Priester unbekannten Theaterstück waren. Elegant und tödlich.
Uhra nickte in Gedanken. Sie würden erst wieder in Ruhe, ohne Angst und ohne ständig über die Schulter schauen zu müssen, leben, wenn er diesen Bogen, der in dem unscheinbaren Kästchen an der Seite des Pferdes festgebunden war, dem Tempel überbracht worden wäre. Wenn doch die Puzzleteile nur besser zusammen passen würden. In der Nachricht aus dem Kloster Dey Lumonos Abieskas, dort wo ein weiteres Artefakt aufbewahrt wurde, gab es einen Hinweis auf eine `dunkle Bruderschaft´, aber was hatte es damit auf sich und wer gehörte zu dieser dunklen Vereinigung?
Uhra fand sich ob dieser Gedanken an diese ominöse Bruderschaft nicht in der Lage, die sich ständig steigernde Unruhe zu besiegen, versuchte es später, etwas abseits der anderen, mit seinem Ritual. Natürlich hatte er die Freude gefragt, ob sie ihm beiwohnen wollte, aber, wie erwartet, hielten die anderen lieber Abstand, ließen sich immer noch nicht darauf ein, Artemesea zu huldigen. Alle? Nein, überraschenderweise war es Hagen, der plötzlich vor ihm stand, ihm freundlich zunickte. Uhra nickte zurück.
Mit einem bestickten Tuch reinigte er die ihm seit seiner Weihe zum Priester gehörenden Gegenstände. Ein aus Stein gefertigter Mond und eine Silberkette mit einem Bogen als Anhänger.
Hagen wartete, er kannte den Ablauf und wusste, dass es noch einige Minuten dauern würde, bis das eigentliche Gebet gesprochen wurde. Mit dem Versuch beschäftigt, sich zu entspannen und auf die Worte zu konzentrieren, deren richtige Betonung und Melodie für die korrekte Ansprache an seine Göttin so wichtig waren, hatte Uhra heute Abend seine Schwierigkeiten. Zu viele Gedanken, Fetzen von Gesprächen und wirre Bilder spukten in seinem Kopf. Dunkle Gestalten wollten ihn greifen, ihn mit sich ins Dunkel ziehen, kein Mond war weit und breit zu sehen, keine Macht in seinem Herzen und seinen Fingern. Sie würden ihn fangen, ihm den Bogen entreißen. Artemesea würde ihn als unwürdig ansehen und verstoßen. Er würde in der ewigen Verdammnis mit ihrer Ungnade leben. Was für ein Leben sollte dies wohl sein, er konnte es sich nicht vorstellen. Konzentriere Dich!
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