Gwen schloss die Augen, atmete regelmäßig, sie würde auf die Astralebene wechseln, fühlte aber großen Respekt, sogar etwas Angst vor dem, was sie dort erwartete. Einen Toten auf der Ebene der Energie zu untersuchen, das hatte die Magierin noch nie gebraucht. Zur Vorsicht setzte Gwendolin sich auf den Boden, lehnte sich gegen den Tisch auf dem Geradiana lag.
Der Übergang kam spontan, gerade noch war sie in ihrem Körper, den Raum mit seinen Geräuschen vernehmend, die Personen mit ihrem Atem hörend und jetzt auf einer Ebene aus Licht, Farbe und dunklen Bereichen. Es dauerte ein paar Sekunden, um diese andere Form ihres Seins zu akzeptieren. Manchmal fühlte sie sich nackt, der Versuch, sich hier zu schützen, sich mit einer Hülle zu umgeben, war ihr bis jetzt nicht gelungen. Gwendolin schaute sich um. Ihr Körper zeigte die Farbmuster, wie sie sie kannte. Ein Pulsieren von Rot und Gelb. Daneben ihre Freunde, so wie sie sie erwartet, verschiedene Abstufungen in Farbe und Helligkeit. Thealea besaß viel Energie, ihre Präsenz leuchtete hell, die Farbe Blau dominierte.
Vor ihr aber befand sich ein dunkles Schema, dessen Konturen nicht so recht zu erkennen waren. Keine Farbe war zu sehen, der Körper der Priesterin war bar aller Energie. Das Leben war von ihr gewichen. Sollte die Seele eine Farbe und Energie besessen haben, so waren sie nicht mehr zu finden. Sie schwebte näher an die dunkle Präsenz von Geradiana heran, wollte versuchen, Unterschiede zu erkennen, Unregelmäßigkeiten, eine Spur, die ihr verraten würde, wie der Tod diese Frau ereilen konnte. Vorsichtig versuchte sie mit ihrer Hand die Oberfläche zu ertasten. Ihre Astralfinger konnten aber keine Struktur ertasten, stattdessen versank die Hand in der dunklen Sphäre. Erschrocken zog sie ihre Finger zurück. Es hatte nicht wehgetan oder geschmerzt, sie war nur überrascht. Noch nie war sie in den Körper eines anderen Menschen eingedrungen, zumindest nicht auf dieser Ebene. Sie zögerte noch einige Augenblicke, doch die Neugierde gewann die Oberhand. Gwen versuchte es erneut. Sie spürte einen Widerstand, sie musste etwas mehr Kraft aufwenden, um ihre Hand im Körper der Priesterin zu bewegen, es gelang, doch nirgendwo fand sie ein besonderes Muster, eine Zerstörung oder Anzeichen von Auflösung. Nichts. Es war enttäuschend. Sie hatte gehofft, etwas zu finden.
Gwen konzentrierte sich, fiel zurück in ihren realen Körper. Wieder musste sie blinzeln, um den Fokus ihrer Augen korrekt einzustellen. Die Magierin löste sich vom Tisch der Toten, richtete sich auf und drehte sich zu den anderen um. Erwartungsvolle Blicke von allen Seiten. Hagen kam einen Schritt auf sie zu. »Und, hast du etwas gesehen?«
»Ja, ich meine Nein. Ihre Energie hat den Körper verlassen.« »Was habt ihr getan? Ich konnte es nicht verfolgen. Welche Art von Magie habt ihr benutzt, so etwas habe ich noch nicht gespürt!« Theleas Stimme schwankte zwischen Bestürzung und Neugierde. »Bitte, erklärt mir, was ihr gemacht habt!«
»Ja, ich werde es euch erklären. Macht es euch etwas aus, zu warten, bis ich die anderen auch untersucht habe?«
»Nein, ich werde meine Neugierde zügeln. Ich bitte Euch nur, vorsichtig zu sein, stört ihre Ruhe nicht«
»Ich werde vorsichtig sein, dessen könnt Ihr gewiss sein.«
Die Sorgen von Thealea waren echt und Gwen wollte die junge Frau nicht verärgern oder kränken.
Alle begaben sich zum Tisch auf dem Feschaar lag. Gwen konzentrierte sich, brauchte aber länger, es kostete sie mehr Kraft, den Übergang zu schaffen. Je öfter sie es versuchte, umso schwächer wurde sie. Ihre Finger lagen auf dem Unterarm des Bibliothekars. Astral gesehen war er dunkel, wie die Kämpferin vor einigen Minuten. Nur eine Stelle in der Mitte zeigte eine Verfärbung, dort war das Grau mit Braun vermischt, näheres Betrachten zeigte eine chaotische Struktur, wie ein Wollknäuel. Der Rest war ohne Auffälligkeiten, sie kehrte zurück zu den Freunden, zu den fragenden Blicken, die sie erzählen ließen.
»Es gibt eine ungewöhnliche Stelle, etwa hier.« Gwen zeigte auf den Unterbauch des Priesters. »Eine Veränderung im Gefüge.« Thealea konnte ihr Erstaunen nicht vollständig verbergen.
»Ja, ihr habt Recht! Bruder Feschaar litt an einer Erkrankung der Prostata, ein Leiden, das ihn seit seinen Kindheitstagen plagte. Eine Heilung war seit langem überfällig. Doch erst Jahre später bekam ich die Chance, etwas dagegen zu versuchen. Es war weit fortgeschritten und eine vollständige Widerherstellung gelang nicht.«
»Oh, ja ich verstehe. Also hat es nichts mit seinem schrecklichen Tod zu tun?« Uhra schaute fragend zu seiner Ordensschwester.
»Nein, es hat nichts damit zu tun.«
»Du solltest Geridion noch anschauen und dann lieber in anderer Umgebung über die Dinge sprechen, die ihr gefunden habt.« Nyander fühlte sich sichtlich unwohl.
Gwen schaute für eine Bestätigung zur jungen Heilerin. »Ja, wir sollten hier nicht länger bleiben als nötig, es drückt sehr auf mein Gemüt. Meine Trauer kann hier keine Ruhe finden.« Sie drehte sich zu Geridion um, fuhr sachte mit ihren schlanken Händen über das Seidentuch. Ein leichtes Zittern war zu erkennen. Schon fast zärtlich hob sie das Tuch, enthüllte das Gesicht des Priesters, welches ihnen nur allzu bekannt war. Es strahlte eine Ruhe aus, die in den letzten Tagen ihrer Reise dort nicht zu finden war. Kein Zweifel, keine Sorgen waren geblieben, aber auch das Lächeln, dass er ihnen geschenkt hatte, wann immer sie mit ihm sprachen oder auch kontrovers diskutierten, war verschwunden.
Gwendolin verspürte eine innere Hürde, fühlte ein Kribbeln. Hier lag ein Mann vor ihr, mit dem sie gestern – ja, es war erst gestern gewesen - noch sprach. Ihre Hand legte sich vorsichtig auf sein Handgelenk, ein seltsames Prickeln war an ihren Fingerspitzen zu fühlen. Nur sehr kurz, unangenehm, fremdartig. Behalt die Nerven, schalt sich Gwen selber. Er ist tot, versuch etwas zu finden!
Sie konzentrierte sich und befand sich augenblicklich auf der Astralebene. Vor ihr der dunkle Umriss des Toten. Auf den ersten Blick kein Unterschied, dunkel, keine Energie mehr da, die Leben verhieß. Trauer wollte sich ihrer bemächtigen, Gwen brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln, zu konzentrieren. Sie näherte sich Geridions Hülle. Keine schwarzen oder braunen Knoten, kein Loch in der Struktur. Wieder nichts – aber halt, was war dies? Hier gab es Linien, sehr schwach, aber vorhanden. Oder nicht? Sie zweifelte, ob sie wirklich da waren. Hoffte sie nur etwas zu finden und ihr Geist spielte ihr einen Streich? Ihre Hand glitt langsam in die Hülle, konnte aber die Situation nicht verbessern. Die Linien verwischten. Überlege, was du tun kannst – denk nach – es muss doch mehr geben, was du machen kannst, sie fühlte Wut in sich aufsteigen. Noch hatte sie keine Idee, was sie machen sollte, aber Gwen wollte nicht aufgeben, schaute sich um. Zum ersten Mal schaute sie sich hier auf dieser Ebene um, besah sich ihre Umgebung genauer, bewegte sich von der Hülle Geridions weg, schwebte in einem Kreis um die leuchtenden Gestalten, die ihre Freunde waren, herum. Der Raum, in dem sie standen, war durch ein blasses Leuchten beschrieben, ein Zeichen dafür, dass ein Bann oder Zauber über dem Raum lag. Sollte dies vielleicht ein Schutz sein?
Ein winziger leuchtender Faden ging von Thealea aus, verband sie mit dem Bann, den der Raum umgab. Sie speiste mit ihrer Macht den Zauberbann seitdem sie in diesem Raum waren. Man konnte die Energie leicht pulsieren sehen. Blau als Basisfarbe – das wunderte sie nicht besonders, musste es doch irgendwie die Essenz von Artemesea sein. Blau und Silber – immer! Konnte sie auch Energie bündeln, zusammenfügen und abgeben? Würde ihre Fähigkeit, eine reale Illusion zu zaubern (sehr witzig Gwen), auch hier anwendbar sein?
Ihr Zeitgefühl verschwand. Sie machte sich keine Gedanken, wie lange sie schon hier war oder noch hier bleiben müsste.
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