Raschid machte eine finstere Miene. »Ihr könnt gehen«, sagte er in Richtung der Tempelwache. Der junge Mann drehte sich auf der Stelle um, verließ die Räume der Heilerin.
»Hier also habt Ihr Euch versteckt. Ich dachte, Ihr seid noch im Raum der Trauer. Habt Ihr etwas gefunden, was uns hilft?« Er schaute von Thealea zu Gwendolin, dann zu Uhra und zurück. Die anderen wurden ignoriert.
Uhra war der Erste, der auf die drängenden Fragen seines Tempeloberhauptes antworten konnte. »Wir haben soeben unsere Erkenntnisse zusammengetragen, haben versucht, daraus Schlüsse zu ziehen. Thealea hat ihre Sicht der Geschehnisse mit den neuen Hinweisen der Magierin verglichen. Wir alle haben versucht, schlau aus der Sache zu werden.«
»Welche neuen Hinweise?« Die Augen des Hohepriesters lagen nun ausschließlich auf Gwen, daher musste die Magierin noch einmal ihre Erlebnisse berichten.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Das war der Punkt, an dem wir auch waren, aber nicht wirklich weiter gekommen sind. Sollte es ein Angriff von außen sein, wovon wir ja alle mittlerweile ausgehen, dann stellt sich die Frage, wie ist dieser Zauber, oder was immer es ist, an die Personen gekommen?«
»Gwen, kennst du eine Möglichkeit, einen Zauber auf eine Person zu sprechen, ohne ihn zu sehen? Oder ist es doch eine Krankheit, eine, die noch keiner kennt?«
Die Magierin schüttelte den Kopf. »Ich habe noch von keinem Zauber gehört, der ohne sein Gegenüber zu sehen, zielgerichtet eingesetzt wurde. Natürlich gibt es Zauber, die durch eine Person ausgelöst werden, so wie Fallen durch Personen ausgelöst werden, aber nie so, dass es eine bestimmte Person trifft. Auch haben wir ja noch keine genaue Todesursache, wenn ein Zauber gesprochen worden wäre, so hätte ich eine Wunde, Verletzung oder eine andere Schädigung erwartet. Und eine Krankheit würde ich ausschließen oder wie seht ihr das Heilerin?«
Die Angesprochene nickte, sagte dann: »Auch ich kann mir nicht vorstellen, dass dies eine uns unbekannte Krankheit ist. Ich glaube das Netz, von dem die Magierin spricht, ist etwas Beschworenes.«
Raschid dachte nach, seine Stirn lang in Falten. »Also doch ein Angriff. Ich habe gehofft, ihr würdet etwas anderes finden, etwas was wir übersehen haben, uns eine natürliche Erklärung für den schmerzlichen Verlust gibt. – Artemesea hilf uns, hilf uns zu verstehen.«
»Was werden wir jetzt tun?« Uhra blickte abwechselnd vom Hohepriester zur Heilerin. »Wir können doch nicht einfach so dasitzen und nichts tun.«
»Es ist ja nicht so als hätten wir nicht schon Maßnahmen ergriffen.« Der Hohepriester zeigte erneut eine traurige, fast düstere Miene. »Wir werden den Tempel schließen.«
Entsetzt fuhren Uhra und die Oberpriesterin auf. »Nicht für immer, nur nachts und am Tag, wenn keine Gebetsstunden sind.«
»Aber unser zentraler Gottesdienst ist am Abend, wenn der Mond scheint. Ich muss euch sicher nicht erklären, welche Wirkung dies auf unsere Anhänger haben wird. Es wird Fragen geben, Unruhe entstehen. Beides können wir im Moment nicht gebrauchen.«
»Thealea hat recht, vor allem, wenn wir noch nicht einmal wissen, wie die Angreifer in unseren Tempel gelangen konnten.«
»Was wollen sie überhaupt hier im Tempel. Ist es nur der Tod der Priester?« Nyander hatte gut zugehört und bis jetzt keine Antwort darauf erhalten, warum dies alles geschah, was das Ziel solch eines Angriffs war. Personen konnten ersetzt werden, und wenn es nur um Personen ging, hätte man sie auch durch `Unfälle´ beseitigen können. Der betriebene Aufwand war hier aber höher, subtiler, bedrohlicher.
»Ihr seid ein guter Beobachter, werter Nyander.«
»Was haben wir getan, dass wir uns einen solchen Feind geschaffen haben?«, fragte Uhra. Die Sonne konnte ihre wärmenden Strahlen bis in den Kräutergarten werfen, die Luft war angenehm warm. Trotzdem überlief ihn ein kalter Schauer, eine dunkle Vorahnung bemächtigte sich seiner. Er sah sich an einem anderen Ort, wusste nicht, ob er sterben würde oder irgendwie überlebte, er wusste nur, dass er verändert aus der Sache heraus kommen würde.
Es klopfte an der Tür. Uhra erschrak, hatte er durch die Bilder, die seinen Kopf durchfluteten, seine Umgebung nicht wahrgenommen. Es klopfte erneut. Hagen ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig. Die Tempelwache stand ihm gegenüber, sagte etwas zum Nordländer. Hagen trat zur Seite und die Wache begab sich zu Raschid. In der Hand hielt der junge Mann ein kleines Röhrchen, silbern mit einem Tuchstreifen umwickelt.
Raschid öffnete den kleinen Behälter, zog eine Rolle aus Pergament heraus, ein sehr kleines Siegel prangte darauf. Mit einer sanften Handbewegung strich das Tempeloberhaupt über die Nachricht. Unter seinen betagten Fingern konnte man ein schwaches blaues Leuchten erahnen. Man konnte den Eindruck erhalten, er würde das Licht von der Pergamentrolle schieben.
Die Freunde schauten diskret zur Seite. Hagen und Gwen tauschten einige aufmunternde Blicke aus, Gwen berührte Hagen an der Hand, streichelte sie. Uhra stand seiner jungen Glaubensschwester zugewandt, fragte nach den Pflichten eines Oberpriesters. Aufgaben, von denen er im Detail noch keine Vorstellung besaß. Er machte sich einige Sorgen. Ob er wirklich diese neue Herausforderung erfüllen konnte, ja wollte? Wer konnte ahnen, dass er schon heute zum Oberpriester ernannt werden würde. Welches Schicksal würde seine Göttin sich für ihn überlegen. Oh Artemesea hilf!
Es verging einige Zeit, der alte Mann schien die Nachricht mehr als einmal lesen zu müssen, um zu glauben, was dort geschrieben stand. Ein Seufzen verließ seine Lippen. Es war wie ein Zeichen, denn alle verstummten in ihren Gesprächen. »Artemesea prüft uns hart! Ich erhalte gerade die Nachricht, dass auch im Tempel in Thyasis ungewöhnliche Todesfälle zu beklagen sind.«
»Oh nein, nicht auch noch ein weiterer Tempel.« Empörung und Zorn klangen in der Stimme Thealeas mit.
»Damit ist endgültig klar, dass wir uns nichts eingebildet haben. Es ist tatsächlich ein Angriff. Wir müssen die anderen warnen. Sofort wenn es möglich ist!«
»Ja, wir sollten die anderen Hohepriester informieren. Ich werde in meine Gemächer gehen und die Nachricht verfassen.«
Raschid steuerte bereits auf die Tür zu. »Kein Wort zu irgendjemanden! Wir dürfen keine Panik verursachen, ist dies jedem klar?« Alle nickten, und der Hohepriester entschwand in Richtung seiner Räume. Die Tempelwache folgte ihm.
»Was machen wir jetzt?«
»Ich will ja nicht unhöflich erscheinen, aber ich habe Hunger!« »Ja, ist schon klar, dass du ans Essen denkst!« Uhra lächelte Hagen freundlich an.
»Na, wenn wir doch im Moment nicht so richtig wissen, wie unser nächster Schritt aussieht, dann können wir uns auch beim Essen besprechen, oder nicht?«
»Stimmt. Ich werde euch führen. Thealea, hast du eine Idee, wo wir ungestört, besonders ungehört sind?«
»Ich glaube schon, es ist nur ein kleiner Raum für Gäste, da können wir uns hinbegeben.«
Sie folgten der jungen Frau, die zurück in der Öffentlichkeit des Tempelalltags wieder ihre starre Maske aufgesetzte. Kein Zeichen der Unsicherheit, zu oft wurde ihre Hilfsbereitschaft als Schwäche ausgelegt. Sie mussten durch einen langen Gang laufen, stiegen anschließend zwei Treppen nach oben, gingen durch einen Torbogen, einem weiteren Gang folgend, links durch eine helle Eichentür in einen Raum, der mit einem schlichten, aber soliden Tisch und acht Stühlen möbliert war. Eine Anrichte war die einzige Ergänzung zum Mobiliar. Was den Raum aber besonders machte, war die halb offene Decke. Die Decke hörte einfach in der Mitte des Raumes auf, und bei Sonne wurde ein Sonnensegel gespannt, Licht und Schatten standen so in einem angenehmen Verhältnis. Der leichte Wind machte den Aufenthalt erträglich. In der Ferne konnte man den Lärm der Stadt hören.
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