„Doch eigentlich geht es mir um etwas anderes“, fuhr Hanna nach kurzem Schweigen fort.
„Ich mache mir keinerlei Illusionen darüber, dass der Fall nach all der Zeit aufgeklärt werden könnte. Vor einigen Jahren, als mein jüngerer Bruder hier im Ort die Leitung des Kommissariats übernahm, spielte ich mit dem Gedanken, ihn zu bitten, nachzuforschen. Letztendlich war ich jedoch zu feige. Wie jeder hier in der Stadt. Wir sind entweder Feiglinge oder es ist uns gleichgültig.“
Sie schnaubte erneut und ich erkannte die Verachtung dahinter.
„Dann erzählte Mona, dass sie es endlich geschafft hat, einen Käufer für Amits Zuhause zu finden, und ich spürte so etwas wie Hoffnung. Lukas, glauben Sie an Übernatürliches? Unerklärliche Dinge?“
„Ähm“, ziemlich aus dem Konzept gebracht von diesem scheinbar abrupten Themenwechsel starrte ich die Frau vor mir an. „Um ehrlich zu sein“, ich suchte nach einer unverfänglichen Antwort, wollte sie jetzt nicht vor den Kopf stoßen.
Glaubte ich daran? Keine Ahnung. Man hatte mir gesagt, dass ich auf dem OP-Tisch beinahe gestorben war und man mich hatte reanimieren müssen. Davon hatte ich jedoch nichts gespürt, also so, wie man das oft in Erfahrungsberichten hörte. Kein gleißendes Licht, ich hatte auch nicht mein ganzes Leben an mir vorbeiziehen sehen. Im Gegenteil, ich hatte es gar nicht mitbekommen, dass ich mit dem Tode rang.
Hatte ich mich deshalb verändert? War ich - wie nannte man das - nun empfänglicher für Signale aus dem Jenseits? War das heute Morgen etwa keine Wahnvorstellung aufgrund des Missbrauchs mit meinen Schmerzmitteln gewesen? Neinneinnein! Ausgeschlossen. Das war doch total verrückt.
Ich wollte aufspringen und flüchten, aber saß wie angewurzelt auf der Bank. Dabei blickte ich in eindeutig erwartungsvolle Augen. Sie wusste etwas. Etwas, das ich nur zu gerne geleugnet und von dem ich besser nie, niemals was erfahren hätte.
Fahrig griff ich nach meiner Kaffeetasse, trank einen Schluck des mittlerweile erkalteten Gebräus, versuchte, Zeit zu schinden.
„Ich vermute, Ihre Frage zielt darauf ab, ob es in dem Haus, das ich gekauft hab, spukt, richtig?“
Verlegen senkte mein Gegenüber den Blick und zuckte mit den Schultern.
Oh Mann! Wie geriet ich bloß immer in solch dämliche Situationen? Zum hundertsten Mal sagte ich mir, ich sollte aufstehen und schleunigst das Weite suchen. Ich wollte mit diesem ganzen Drama nichts am Hut haben, schon gar nicht mit haarsträubenden Schauergeschichten. Ich hatte genug an meinen Lasten zu tragen, da konnte ich nicht noch die von völlig Fremden draufschaufeln.
Es war ausgeschlossen, dass ich Hanna half. Ich durfte es nicht, es würde meinen Neuanfang ruinieren. Für meinen Seelenfrieden musste ich ignorieren, was direkt vor meiner Nase geschah und einen wirklich netten Menschen vor den Kopf stoßen.
Fuck, ich war ein Arschloch! Doch ich hing an meinem Leben, so armselig es im Moment auch sein mochte und deshalb war es unerlässlich, alles was zu meiner Vergangenheit gehörte, zu vergessen. Egal, wie sehr es mich reizte, nachzuforschen. Ich war kein Polizist mehr. Punkt!
„Nein. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ein Gespenst oder sonst etwas in meinem Haus sein Unwesen treibt“, schwindelte ich und fühlte mich mies.
„Das einzig Gruselige ist Amits Zimmer, welches den Originalzustand wie vor drei Jahrzehnten zeigt. Ich kenne das von Tatorten. Ansonsten gibt es nichts Auffälliges, bis auf die Tatsache, dass mir vielleicht noch das Dach auf den Kopf fällt.“
Ich kramte mein Portemonnaie hervor, legte einen Schein auf den Tisch und wich Hannas enttäuschter Miene aus, als ich mich mühsam erhob. Den Griff meiner Krücke krampfhaft umklammernd, warf ich ihr völlig unzureichend zu: „Sorry, aber ich bin der Falsche, um Ihnen zu helfen. Sie müssen jemand anderen suchen.“
Hastig humpelte ich aus dem Café, mir der Blicke aller Anwesenden sehr wohl bewusst. Doch keiner von denen störte mich, nur der von Hanna brannte sich in meinen Rücken.
Draußen atmete ich befreit durch, überzeugt, das Richtige getan zu haben. Dennoch, das nagende Gefühl, Hanna - und den verstorbenen Jungen - im Stich zu lassen, verfolgte mich unerbittlich. Es ließ sich nicht mehr abschütteln und so lenkte ich den Explorer Richtung Brilon, um dort in einem Internetcafé ein bisschen Recherche zu betreiben ...
Mit einem Gefühl der Beklemmung schaute ich an der dunklen Fassade meines Hauses hoch, verwünschte mich, dass ich meine Neugier nicht hatte zügeln können. Über zwei Stunden hatte ich versucht, aus alten Zeitungsausschnitten zu rekonstruieren, was damals geschehen war. Das Ergebnis: Ich war hin- und hergerissen. Amits Geschichte wühlte mich unglaublich auf und ja, ein bisschen hatte mich das vertraute Fieber gepackt, wie immer, sobald ein Fall besonders knifflig war.
Aber ich weigerte mich, auf diesen Sog hereinzufallen. Schon einmal hatte ich mich von Gefühlen blenden lassen, jegliche Vernunft beiseitegeschoben und wo stand ich heute?
Vor einer Beinaheruine in der Pampa, in dem vielleicht ein Poltergeist sein Unwesen trieb. Mir entwich ein Schnauben. Fuck, das war doch ausgemachter Blödsinn!
Klar, Hanna hatte etwas in der Richtung angedeutet, das konnte allerdings unmöglich ihr Ernst sein. Oder? Ich hielt mich durchaus für aufgeschlossen, Geister jedoch? Personen, die aus dem Jenseits zurückkamen, weil sie noch was erledigen mussten? Das war - gelinde gesagt - totaler Humbug, wobei ich die Erinnerungen an die plötzliche Kälte, das Kichern - und nicht zu vergessen, das Grapschen - verdrängte. Oder den Rucksack, der mir praktisch hinterhergetragen worden war.
Doch egal, ob Einbildung oder wahrhaftig das Werk eines Poltergeistes, der Junge, der vor mir hier gelebt hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. Niemand hatte solch ein Schicksal verdient. Gerade neunzehn Jahre alt und brutal aus dem Leben gerissen.
Aber so verbunden ich mich seltsamerweise mit ihm fühlte, so begierig ich darauf war, das Rätsel zu lösen: Ich würde es nicht tun. Ich konnte es nicht. Unwichtig, wie sehr ich es mir auch wünschte: Ich war kein Polizist mehr und je eher ich mich mit der Tatsache abfand, desto besser.
Amit Willner war tot und begraben und so leid es mir tat, dass sein Vater an gebrochenem Herzen starb, ohne zu wissen, wer seinem Sohn das angetan hatte ... Es war nicht mein Problem. Nicht meine Aufgabe.
Nicht mehr.
Seufzend hinkte ich die Stufen hoch, betrat mein neues Zuhause und beschloss, die Geschichte einfach wieder zu vergessen. Doch in dieser Nacht mischte sich in die Albträume meiner Vergangenheit das exotische Gesicht eines Jungen, dessen ungewöhnliche tiefblaue Augen mich hilfeflehend anstarrten.
Am nächsten Morgen - erneut nach einer grässlichen Nacht - humpelte ich ins Bad, wo ich mich unwillkürlich umschaute, ob nicht jemand in einer Ecke hockte. Gleich darauf schüttelte ich den Kopf über mein Verhalten. Selbst wenn hier ein Poltergeist sein Unwesen trieb ... ich würde ihn einfach ignorieren. Ebenso wie den ungeklärten Mordfall.
Seufzend stieg ich umständlich in die Duschwanne - bei der Sanierung musste unbedingt eine ebenerdige Dusche her! - und genoss das prasselnde heiße Wasser. Hm, eine Wohltat! Dennoch beeilte ich mich, da heute Vormittag mein erster Termin zur Physiotherapie war.
Christa Ahrends wohnte hier in Hallenberg und den Kontakt hatte ich über den Krankengymnasten in der Charité geknüpft. Ob es was brachte, blieb abzuwarten. Ich brauste mich ab, kletterte mühsam aus der Duschtasse heraus und rubbelte mich trocken. Dabei glitt mein Blick erneut suchend umher und ich spitzte die Ohren.
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