Die Angesprochene nickte fahrig. Ihre Hände hatte sie ineinander verschlungen und knetete sie nervös. Irritiert ließ ich die Gabel, die ich bereits ergriffen hatte, sinken und musterte die Frau vor mir. Sie wirkte verstört und ehe ich mich zurückhalten konnte, fragte ich: „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“
Braune Augen, in denen ein unbestimmtes Flehen lag, lösten ein vertrautes Prickeln aus. Wie oft wurde ich von Opfern eines Verbrechens so angesehen? Unzählige Male. Eine Mischung aus Hilflosigkeit und Resignation.
„Ich ... ich möchte Sie keinesfalls belästigen, Herr Berger. Es ist nur ... Ich muss Sie etwas fragen und weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich anfangen soll.“
Ich musterte sie aufmerksam und lächelte sie aufmunternd an.
„Setzen Sie sich doch zu mir, Hanna. Und dann einfach raus damit. Das ist die beste Methode.“
Zögernd nahm sie mir gegenüber Platz. „Nun, Herr Berger ...“
„Lukas, bitte“, zwinkerte ich ihr zu und schaffte es so, sie zu einem halben Lächeln zu bewegen.
„Was wissen Sie über den Vorbesitzer Ihres Hauses?“, fragte sie mich gespannt.
„Nur, dass er verstorben ist. Frau Marquardt erwähnte es bei der Schlüsselübergabe.“
Das beklemmende Gefühl, dass ich in dem Zimmer gespürt hatte, in dem die Zeit stehengeblieben war, kam schlagartig zurück. Die kalte Luft und das unerklärliche Auftauchen meines Rucksacks drängten sich in mein Bewusstsein. Gänsehaut überzog meinen Körper und gegen meinen Willen pulsierte Aufregung durch meine Adern, war ich neugierig. Ich konnte einfach nicht anders.
„Ja. Klaus Willner starb vor knapp elf Jahren mit nur siebenundfünfzig an Herzversagen. Das ist zumindest die offizielle Version“, antwortete mein Gegenüber leise und bedrückt.
Ich setzte mich kerzengerade auf. Eine Standarderklärung für ungeklärte Todesursachen. Spontan streckte ich den Arm aus, ergriff Hannas Hand und drückte sie aufmunternd.
„Hanna, was immer Sie mir auch anvertrauen, ich versichere Ihnen, es bleibt unter uns. Wie Sie vermutlich längst wissen war ich Polizist. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie in Schwierigkeiten stecken.“
Mit aufgerissenen Augen starrte sie mich an, jedoch nicht ängstlich, eher hoffnungsvoll. Innerlich verfluchte ich mich für dieses leichtfertige Versprechen, doch ich konnte da wohl einfach nicht aus meiner Haut heraus.
„Nein, nein. Keine Schwierigkeiten. Es ist nur ...“, sie atmete tief durch.
„Verdammt. Ich hatte mir fest vorgenommen, Sie um Hilfe zu bitten, und jetzt kriege ich die Worte nicht zusammen. Okay. In Ihrem Haus wurde vor dreißig Jahren ein Teenager ermordet. Also, nicht direkt im Haus, sondern in dem Waldstück dahinter. Aber er lebte dort. Amit. Amit Willner, mein bester Freund in der Schule. Er wurde brutal umgebracht und sein Mörder nie gefasst.“
Ich war nicht wirklich überrascht. Natürlich war mir der Verdacht bereits gekommen, als ich das Zimmer sah. Doch solche Schreine besaßen vielfältige Ursachen. Oft verschwanden die Bewohner spurlos und die Angehörigen hofften einfach darauf, dass sie wiederkamen. Aus langjähriger trauriger Erfahrung wusste ich, dass diese Hoffnung in den meisten Fällen vergebens war.
Einen Moment wünschte ich mir Unwissenheit zurück oder einen Zeitsprung, ehe mein Gegenüber mit der Geschichte herausgeplatzt war. Was tat ich hier?
Ich war hergekommen, um mein altes Leben hinter mir zu lassen. Ich war kein Polizist mehr, man hatte mich an einen Schreibtisch fesseln wollen, hielt mich in meiner Verfassung für ungeeignet, den Eid zu erfüllen.
Mir brach der Schweiß aus, mein Knie pochte und brannte, glühende Messer stachen in meine Schulter. Dunkle Erinnerungen drohten mich zu überwältigen, bohrten sich unerbittlich in meinen Verstand und ich umklammerte haltsuchend den Knauf meiner Krücke. Mein Kiefer mahlte, so fest presste ich die Zähne aufeinander. Durch das Rauschen in den Ohren hörte ich entfernt das Klappern eines Stuhls, dann erschien ein Glas Wasser in meinem Blickfeld. Hastig griff ich danach, leerte es in gierigen Schlucken.
Der Schwindel ließ nach, die schwarzen Flecken verschwanden und ich erkannte Hannas besorgtes Gesicht vor mir, die sich zu mir herunterbeugte und den gesunden rechten Oberarm kurz drückte.
„Geht es? Brauchen Sie einen Arzt?“ Alles, nur das nicht.
„Es wird schon besser. Danke“, krächzte ich. „Hab mich wohl etwas überanstrengt heute.“
Ich versuchte mich an einem beruhigenden Lächeln und versicherte ihr: „Es gibt gute und schlechte Momente. Ich gewöhne mich gerade daran. Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Das verstehe ich, Lukas. Entschuldigen Sie bitte meine Aufdringlichkeit. Ich belästige Sie dann mal nicht länger. Es war sowieso eine blöde Idee“, sie machte Anstalten den Tisch zu verlassen.
„Nein. Es ist okay, Hanna. Wirklich. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von Ihrem Freund. Ob ich Ihnen helfen kann, weiß ich nicht, aber manchmal hilft es, mit einem Außenstehenden zu reden“, ermunterte ich sie.
Innerlich schüttelte ich fassungslos über mich den Kopf. Ich sollte besser aufstehen und schleunigst verschwinden. Diese Geschichte ging mich schließlich nicht das Geringste an ...
Ich runzelte die Stirn. Nein, das klang falsch. Ich hatte ein Haus gekauft, in dem ein Mordopfer zuhause gewesen war. Da konnte ich mich nicht einfach mit Desinteresse herauswinden. Zudem spürte ich bereits, wie mich unweigerlich die Neugier packte und verschiedene Theorien in meinem Gehirn Gestalt annahmen. Offenbar schaffte ich es nicht, alle Aspekte meines alten Lebens hinter mir zu lassen. Tja, einmal Bulle, immer Bulle.
„Okay.“ Hanna zerrupfte nervös eine Serviette. „Wo soll ich nur anfangen?“
„Erzählen Sie mir doch zunächst von Ihrem Freund. Wie war er so?“, forderte ich sie behutsam auf.
Mein Gegenüber atmete tief durch und ein weiches Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen.
„Er war ein Goldschatz. Er hat immer von innen heraus gestrahlt, obwohl seine Mitmenschen alles dafür taten, ihm den Frohsinn auszutreiben. Er wurde nicht akzeptiert, da er ... Nun ja, keiner von uns war. Behaupteten diese bigotten Idioten jedenfalls.“
Sie schnaubte wutentbrannt. „Ich war noch ein Kind und verstand nicht, wieso sie ihn anders sahen. Natürlich schaute er nicht aus wie wir, weil er nicht weiß war, aber ...“
Ich horchte auf. Fremdenfeindlichkeit? Damals wie heute bedauerlicherweise ein häufiger Grund für Anfeindungen.
„Amit war kein Deutscher?“, mutmaßte ich.
„Doch!“ Braune Augen funkelten mich wütend an. „Selbstverständlich war er das und selbst wenn nicht ...“
„Hanna, ich versuche nur, mir ein Bild zu machen. Das war keine Wertung“, versicherte ich ihr und griff spontan nach ihren zitternden Fingern, die immer noch Servietten zerrupften.
Mein Kuchen war vergessen, ich musste nun die ganze Geschichte hören, wollte erfahren, was genau dem Jungen widerfahren war.
„Amits Mutter stammte aus Indien und ... Nun ja, er war ihr Ebenbild. Wobei das nicht das Einzige war, das sie ihm ankreideten. Viel schlimmer wurde es, als er als Teenager geoutet wurde.“
„Geoutet?“
„Sie wissen schon.“ Hanna wedelte mit der Hand.
„Amit war schwul“, konstatierte ich nüchtern. Eine gewaltige Bürde für jemanden, der bereits wegen seiner Herkunft ausgegrenzt worden war.
„Ja“, erwiderte die Cafébesitzerin düster, „und deshalb hat es kein Schwein interessiert, dass er ermordet wurde. Der Täter wurde nie gefasst und Herr Willner starb an gebrochenem Herzen. Ohne je zu erfahren, wer seinen Sohn auf dem Gewissen hatte.“
Ich schluckte einen Kloß hinab. Mir das Leid des Mannes vorzustellen fiel mir nicht allzu schwer. Ich hatte zwar kein Kind verloren, aber der Unfalltod meiner Eltern war ein harter Schlag gewesen, an dem ich heute noch knabberte.
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