Treblow atmete einmal tief durch, ehe er zu reden begann: „Liebes, es tut mir leid, aber …“
„Du hast es versprochen. Nie bist du für mich da“, viel sie ihm vorwurfsvoll ins Wort. Aus ihr sprach purer Frust.
„Kleines, bitte … Es tut mir unendlich leid, aber …“ Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden.
„Ich wünschte, Mama wäre noch hier.“
Es traf ihn wie ein Keulenschlag. Er spürte einen dicken Kloß in seinem Hals, der sich binnen weniger Nanosekunden in einen riesigen Gesteinsbrocken zu verwandeln schien. Melanie hingegen war in ihrem Inneren durchaus bewusst, dass sie ihrem Vater in diesem Moment schwer Unrecht tat. Aber sie war einfach nur sauer, stocksauer. Viel zu sehr und viel zu lange schon hatte sie sich auf diesen Nachmittag gefreut, doch wieder einmal hatte sich die Macht des Bösen als stärker erwiesen. Einige Augenblicke herrschte betretenes Schweigen an beiden Enden der Leitung. Sebastian wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Er brauchte eine Weile, um sich zu sammeln und seine Stimme wiederzufinden. „Ich …, Schatz …, mir fehlt sie doch auch. Aber ich … Es tut mir so leid.“
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich weiß doch, Papa. Du kannst nichts dafür. Es tut mir leid, was ich gesagt habe.“ Diese Hundertachtzig-Grad-Wendung innerhalb weniger Sekunden war sicher sinnbildlich für die berühmt-berüchtigten Stimmungsschwankungen heranwachsender Teenager und das gewaltige Chaos in deren Gefühlswelt, zeugte aber auch von aufrichtigem Bedauern. „Es war nicht so gemeint. Bitte verzeih mir. Ich hab dich doch lieb.“
„Ich dich auch“, gab Treblow, nach Kräften darum ringend, sich seinen soeben erlittenen emotionalen Beinahe-Zusammenbruch möglichst nicht anmerken zu lassen, zurück.
„Kommst du wenigstens bald nach Hause?“, drang die verheulte Stimme seiner Tochter an sein Ohr.
„Ich gebe mir alle Mühe, aber ich kann dir leider nichts versprechen. Das musst du verstehen, Kleines. Sobald ich Näheres weiß, telefonieren wir wieder, okay?“
„Okay“, gab Melanie zurück. „Bis dann. Pass auf dich auf, Papa!“ Plötzlich wirkte sie wie eine Schmusekatze.
„Klar doch, mach´ ich.“ Ein Knacken in der Leitung beendete das Gespräch. Es dauerte eine Zeitlang, bis Sebastian wieder Boden unter seinen Füßen spürte. Das Telefonat mit seiner Tochter hatte ihm offenbar weitaus mehr zugesetzt, als er sich selber eingestehen wollte. Vor allem aber der geradewegs verzweifelte Hilfeschrei nach ihrer verstorbenen Mutter hatte nicht nur alte Wunden aufgerissen, sondern ihm wieder einmal ins Bewusstsein zurückgerufen, dass da nach wie vor eine gewaltige Narbe existierte, die vermutlich noch lange empfindlich schmerzen würde. „Wie machst du das eigentlich mit Denis?“, wandte er sich schließlich an Elin.
„Das frage ich mich auch manchmal. Irgendwie kriegen wir´s eben gebacken.“
„Spielt er noch Handball?“
„Ja. Sie sind heute schon in der halben Nacht zu einem Turnier nach Kiel gefahren und kommen erst morgen Nachmittag zurück.“
„Glückspilz. Da hast du ja sturmfreie Bude.“
Bloß habe ich niemanden, mit dem ich diese teilen könnte , haderte sie nicht ohne Frust mit ihrem derzeitigen Liebesleben. Der Schalter der Beziehung zu Martin jedenfalls stand zurzeit wieder mal auf Off , und eine ernstzunehmende Alternative war weit und breit nicht in Sicht. „Sehr witzig“, entgegnete sie vielsagend. „Ich habe ihm schon lange versprochen, endlich mal wieder bei einem Spiel seiner Mannschaft dabei zu sein; das letzte Mal ist bestimmt über ein Jahr her. Aber ich musste ihn zuletzt immer und immer wieder vertrösten. Er behauptet zwar, er würde das verstehen, aber wer weiß schon, was zurzeit wirklich so alles in seinem Kopf vorgeht.“
„Das kann ich dir sagen. Es sind vor allem drei Dinge, die Jungs in seinem Alter beschäftigen, und zwar Weiber, Weiber und nochmals Weiber. Ich spreche da aus Erfahrung.“ Sebastian grinste wie ein Schelm, als fühlte er sich in seine eigene pubertäre Sturm-und-Drang-Periode zurückversetzt. „Wenigstens aber musst du dir heute von niemandem irgendwelche Vorwürfe gefallen lassen, wenn du nicht nach Hause kommst. Das ist doch auch schon mal was.“ Aus seiner Stimme klang ätzende Ironie.
„Ich lache ein andermal darüber“, antwortete Elin mit bissigem Unterton. „Aber Mel hat es bestimmt nicht so gemeint. Sie ist halt enttäuscht und hat etwas überreagiert. Und nicht zu vergessen: die Hormone. Und was das betrifft, spreche ich aus Erfahrung.“
Er zog die Augenbrauen nach oben. „Warst du etwa auch so?“
Tarhan legte geheimnisvoll ihren linken Zeigefinger auf den Mund und presste ein vieldeutiges „Von mir erfährst du nichts“ zwischen ihren Lippen hervor.
„Pubertierende Weiber!“, ächzte Treblow. „Aber was soll´s, da muss ich jetzt wohl oder übel durch.“
Seine Kollegin verkniff sich einen Kommentar und zuckte stattdessen nur mit den Schultern. Schließlich mahnte sie: „Zurück zum Geschäft. Die Pathologen warten. Wir müssen los.“
Auf Anordnung der diensthabenden Staatsanwältin war die Autopsie der Toten vom Küstenwald auf den späten Vormittag angesetzt worden. Tatsächlich hatte es Frau Dr. Büttner geschafft, den Professor für ein paar Stunden von der Geburtstagsfeier seiner Gattin loszueisen, aber vermutlich war ihm dieser spektakuläre Mordfall sogar ein willkommener Vorwand, um sich eine Zeitlang aus der geselligen Runde davonstehlen zu können. Seit neuneinhalb Jahren schon war Thaddäus Schwesinger, Jahrgang 1949, nun schon Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts und auf seinem Gebiet unbestritten eine absolute Koryphäe. Dennoch war er stets bodenständig und bescheiden geblieben, weswegen Sebastian nicht nur in beruflicher Hinsicht allergrößte Hochachtung, sondern auch persönlich eine gehörigen Portion Sympathie für den lebenserfahrenen, weißhaarigen Mann empfand.
Der Obduktionssaal war hell gefliest, gut ausgeleuchtet und mit modernen Sektionstischen aus Edelstahl ausgestattet. Oberhalb dieser befanden sich Ablagen zur makroskopischen Begutachtung der entnommenen Organe auf etwaige Anzeichen äußerer Gewalt, bereits vorliegender Erkrankungen oder sonstiger Befunde. Darüber hinaus standen Behälter für die Aufnahme von Gewebeproben, diverser Körperflüssigkeiten, wie etwa Venen- und Herzblut, Urin oder Mageninhalt zur weiteren Untersuchung bereit – für den Außenstehenden sicher nicht unbedingt eine allzu appetitliche Vorstellung. Das düstere, schummrige Kellerambiente allerdings, wie man es aus manchen TV-Krimis kennt, suchte man hier ebenso vergeblich wie einen kauzigen Eigenbrötler a la Quincy. Stattdessen sorgten gleißend helle Scheinwerfer über den Arbeitsplätzen dafür, dass den geschulten Augen der Rechtsmediziner möglichst kein Detail entgehen konnte. Zahlreiche Instrumente und Werkzeuge, darunter eine ganze Armada von Messern und Skalpellen, Hämmern und Meißeln, Fräsen und Sägen sowie Duschvorrichtungen und Ablaufrinnen vervollständigten das makabre Inventar. Die Sektions-Crew inklusive sämtlicher dem Procedere beiwohnenden Personen trugen ohne Rücksicht auf Namen und Dienststellung blaue OP-Kleidung. Mundschutz, spezielle Kopfbedeckung, Einmalhandschuhe und Füßlinge aus Plastik ergänzten das Equipment, welches auf den ersten Blick vermuten ließ, man wolle in einen atomaren Krieg ziehen. Die Mitarbeiter des Rechtsmedizinischen Instituts waren überdies noch mit Laborschutzbrillen und weißen Gummischürzen ausgestattet. Der süßlich-modernde Geruch des Todes waberte um ihre Nasen, doch eingefleischte Profis, die tagtäglich in einer solchen Atmosphäre tun haben, sollen hiergegen ja mit den Jahren eine bemerkenswerte Immunität entwickeln.
Die Autopsie wurde unter Leitung von Professor Schwesinger durchgeführt. Zu seinem Team gehörte neben Frau Dr. Büttner, welche die Leiche bereits am Fundort begutachtet hatte, noch ein Sektionsassistent. Dieser war Ende zwanzig und geradezu ein Riese von Mann. Obwohl seine dunkle Hautfarbe zweifelsfrei verriet, dass er afrikanischer Herkunft sein musste, sprach er ein völlig akzentfreies Deutsch mit einem leicht sächsischen Einschlag. Seine leiblichen Eltern, ein Angolaner und eine Äthiopierin, hatten einst in Leipzig Pharmazie studiert und bei einem Brandunglück ihr Leben verloren, als er selbst noch ein Baby war. Danach war Kambale bei Adoptiveltern aufgewachsen, die ihn liebevoll wie ein leibliches Kind umsorgten und behüteten. Die einige Jahre nach der Wende aufgedeckte IM-Vergangenheit seines Pflegevaters hatte anfänglich zwar für einige Irritationen mit dem Ziehsohn gesorgt, letztendlich aber die durch die unbarmherzigen Launen des Schicksals zusammengeführte Familie eher noch weiter miteinander verschweißt.
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