„Was können Sie uns sonst noch über Ihre Freundin sagen?“, nahm Treblow das Gespräch scheinbar unbeeindruckt wieder auf.
„Was wollen Sie wissen?“
„Alles. Woher kommt sie? Eltern, Geschwister, Angehörige, Freunde, Männergeschichten, Job, Hobbys, alles, was Ihnen zu ihr einfällt. Erzählen Sie einfach frei von der Leber weg!“
Jasmin Bartzsch gönnte sich eine kurze Pause zum Nachdenken, ehe sie schließlich munter drauflos zu plaudern begann: „Also, ich bin seit fünfeinhalb Jahren in der Praxis von Dr. Pacholski. Franzi hat bei uns als Azubiene angefangen, als ich im letzten Lehrjahr war. Sie kam aus Schleswig-Holstein, aus Lübeck, glaube ich, wollte aber um jeden Preis weg von da. Es ist ihr vor allem am Anfang sehr schwer gefallen, weil … na ja, sie hatte ja hier niemand. Jedenfalls hat sie ziemlich oft geweint, und wir dachten schon, sie schmeißt beizeiten hin. Aber letztendlich hat sie sich doch durchgebissen.“
„Hat sie Ihnen gegenüber vielleicht irgendwann mal erwähnt, warum sie unbedingt von daheim weg wollte?“, unterbrach Sebastian sie kurz.
Die junge Frau räusperte sich und schluckte hart, ehe sie fortfuhr. „Eigentlich spricht sie so gut wie nie über ihre Vergangenheit. Aber sie muss wohl ein ziemlich beschissenes Elternhaus gehabt haben.“
„Hat sie einen Freund? Lebt sie mit jemandem zusammen?“, wollte Treblow unterdessen wissen.
Jasmin Bartzsch rollte mit ihren grünen Augen. „Na ja, ich weiß nicht. Jonas vielleicht.“
„Jonas – und wie weiter? Und vor allem was heißt vielleicht ?“
„Jonas eben. Weiner, Meinert oder so ähnlich, glaube ich. Sie sind mal zusammen und dann auch wieder nicht. Aber wozu wollen Sie das alles wissen?“
„Sie wollen doch auch, dass wir Ihre Freundin so schnell wie möglich finden“, erinnerte Sebastian sein Gegenüber an den ursprünglichen Grund ihres Besuchs. „Also wohnt sie allein?“
Die Antwort bestand aus einem wortlosen Nicken.
„Affären?“, warf er einsilbig in den Raum.
„Affären?“, echote die Gefragte. „Und ob. Jede Menge. Franzi kann von Männern einfach nicht genug bekommen. Sie nimmt sich, was und wen sie will. Heute diesen, morgen jenen, übermorgen den nächsten und überübermorgen wieder einen anderen … Sie ist ein richtiger kleiner Samentanker.“ Augenblicklich erschrak sie über ihre eigene, unbeabsichtigt obszöne Wortwahl und wurde puterrot im Gesicht. „Mir tut nur Jonas leid, der ist so ein lieber Kerl. Bei dem kann sie machen, was sie will. Er verzeiht ihr immer wieder. Keine Ahnung, wie oft sie ihn schon betrogen hat. Nicht mal vor dem Chef …“, wollte sie fortsetzen, stoppte aber mitten im Satz, als hätte sie soeben ein großes Indianergeheimnis preisgegeben.
„Moment mal“, nahm Treblow den Ball umgehend auf. „Heißt das, sie hat was mit ihrem Boss?“
„Na ja. Eigentlich soll das ja keiner wissen. Schließlich ist er verheiratet und hat Familie. Aber in Wahrheit pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass zwischen den beiden was läuft.“
„Langsam, noch mal zum Mitschreiben“, stocherte der Kommissar nach. „Wollen Sie damit sagen, Franziska Klein und … Wie heißt er Kerl doch gleich?“
„Pacholski, Dr. Alexander Pacholski“, half ihm Jasmin Bartzsch bereitwillig auf die Sprünge.
„… haben ein Verhältnis miteinander?“, vervollständigte er seine bereits begonnene und offenbar zutreffende Schlussfolgerung.
„Ja und nein“, entgegnete die junge Frau etwas wankelmütig. „Ich weiß nicht, ob man das tatsächlich Verhältnis nennen kann. Ich würde es eher eine Bettgeschichte nennen. ER bumst eigentlich so ziemlich jede, die ihm vor die Flinte kommt. Und SIE lässt kaum einen Schwanz aus. So gesehen passen die beiden bestens zusammen.“ Urplötzlich hatte ihre Stimme einen merkwürdig aggressiven Klang.
Sebastians feinfühligen Sensoren war die unterschwellige Veränderung in ihrer Tonlage nicht entgangen, und er glaubte, den Grund hierfür zumindest zu erahnen. Ich könnte wetten, dass er dich auch schon flachgelegt hat , ratterten seine Gedanken wie ein Uhrwerk . Irgendwann hatte er dann wahrscheinlich genug von dir und hat sich ein neues Spielzeug zugelegt. Aber wem gefällt es schon, ins zweite Glied abgeschoben zu werden? „Belastet so eine – nennen wir es mal vorsichtig – Romanze denn nicht das Arbeitsklima?“, tastete er sich behutsam vor.
Die einzige Reaktion war ein nichtssagendes „Geht so“.
„Hat oder hatte er vielleicht auch was mit anderen Mitarbeitern?“, schob Treblow sogleich doppelzüngig hinterher.
Es war nicht zu übersehen, wie es der Angesprochenen schlagartig die Röte ins Gesicht trieb. Das Thema war ihr offenbar peinlich. „Was hat das mit Franzi zu tun, wozu um alles in der Welt wollen Sie das wissen?“, reagierte sie schließlich mit einer Gegenfrage.
„Nennen Sie es einfach berufsbedingte Neugier“, entgegnete Sebastian mit einem schelmischen Grinsen. „Also, was ist? Ich höre ...“
Jasmin Bartzsch konnte ihre wachsende Anspannung nicht verbergen. Nervös knaupelte sie an ihren grelllackierten Fingernägeln. Sie wirkte wie ein Kind, das man bei einer Dummheit ertappt hatte und starrte beinahe apathisch die hochaufragenden Aktenschränke an der gegenüberliegenden Wand an. Sie erwiderte kein Wort, sondern zuckte nur leicht mit den Schultern, aber ihre Körpersprache war Antwort genug.
Mit diesem Doktor würde ich doch zu gerne einmal plaudern und vor allem sein Personal begutachten. Vielleicht sucht er sich ja ganz gezielt solche Schnecken aus, vernascht sie und wenn er genug von ihnen hat, nimmt er sich die nächste. Obwohl noch nicht einmal die Identität des Opfers zweifelsfrei bewiesen war, brütete Treblows Ermittlerhirn bereits instinktiv über potentielle Täter und mögliche Motive. Und hier schien es durchaus einige Ansatzpunkte zu geben. Schließlich kann es äußerst schmerzhaft sein, nicht mehr begehrt zu werden und einer anderen weichen zu müssen. Eifersucht, Neid und Hass haben schon Staatskrisen ausgelöst , hämmerte es in seinem Kopf . Aber auch dieser Zahnklempner könnte durchaus eine Schlüsselfigur in diesem mysteriösen Mordfall sein oder vielleicht sogar mehr. Und dieser Weiner, Meiner oder wie auch immer: vielleicht hatte er irgendwann doch genug von ihren ständigen Demütigungen. „Frau Bartzsch, kennen Sie die Adresse von diesem Jonas?“, nahm er das Gespräch schließlich wieder auf, während seine Kollegin sich scheinbar geistesabwesend mal wieder an einer Büroklammer verging.
„Ich glaube, er wohnt in Reutershagen in einer WG. Aber ganz genau weiß ich das auch nicht.“
„´ne Handynummer?“, hakte Sebastian einsilbig nach.
„Nee. Sorry, tut mir leid.“
„Okay. Dann nochmal zurück zu Ihrer Freundin. Wissen Sie, wo ihre Eltern wohnen?“, fragte Elin.
„Ich nehme an, irgendwo in Lübeck. Aber wie gesagt, sie muss ziemlichen Beef mit ihren Alten gehabt haben. Soviel ich weiß, hat schon seit ein paar Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen.“
„Und was ist mit sonstigen Angehörigen, Großeltern, irgendwelchen Tanten oder Onkels? Hat sie vielleicht Geschwister?“, ließ die Kommissarin nicht locker.
„Nicht, dass ich wüsste“, gab die junge Frau kopfschüttelnd zurück. „Mit mir hat sie jedenfalls noch nie über Verwandte oder so was gesprochen. Sie redet eigentlich nie über ihre Familie.“
Warum, verdammt noch mal, geht ein junges Mädchen so früh von daheim weg und reißt offenbar alle, aber wirklich ALLE Brücken hinter sich ab? , sinnierte Treblow. Kein Kontakt mehr zu Eltern und Verwandten, die ganze eigene Vergangenheit wie ausradiert. Da muss doch irgendetwas ganz besonders Schwerwiegendes tiefe Schatten in ihrem früheren Leben hinterlassen haben , arbeiteten seine Windungen erneut auf Hochtouren. „Die Personalakte!“, platzte es auf einmal aus ihm heraus. „Ihr Chef hat doch bestimmt eine Personalakte von ihr.“
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