Die Worte schienen der Kommissarin für einige Sekunden die Sprache zu verschlagen, ehe sie auf einmal laut losprustete. Trotz der nervenaufreibenden Situation schien ihr unverhofftes Lachen wie ein ansteckender Bazillus zu wirken, denn in dem verheulten, schminkeverlaufenen Gesicht ihr gegenüber regte sich plötzlich ein zaghaft verschämtes Lächeln, und selbst der eben noch so spröde Sebastian Treblow konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. „Es ist nun mal unser Job, alle und alles zu hinterfragen. Das dürfen Sie nicht persönlich nehmen.“ Sein Tonfall wirkte auf einmal unverhofft freundlich, fast schon ein wenig weichgespült. Vielleicht plagte ihn ja tatsächlich sein schlechtes Gewissen, weil er sich im bisherigen Gesprächsverlauf ziemlich schroff gegeben hatte. Andererseits führte er Verhöre gern nach der Strategie von Zuckerbrot und Peitsche, und offenbar war er gerade mal wieder dabei, ein paar Scheiben Zuckerbrot zu verteilen. „Es ist zwar immer besser, wenn man bei sowas Zeugen hat, aber natürlich wissen wir auch, dass das nicht immer möglich ist. Und deswegen werden wir Sie bestimmt nicht gleich einbuchten, nur weil Sie keinen … Sie wissen schon.“ Er verzichtete darauf, den Satz zu vollenden, musste aber nochmals schmunzeln. Beim besten Willen konnte er nicht glauben, dass dieser heiße Feger wirklich seit fast einem halben Jahr auf dem Trockenen gesessen haben soll. Es klang fast ein wenig entschuldigend, als er sich bei seinem attraktiven Gegenüber für ihre Hilfe bedankte und sie um eine Nummer bat, unter der sie für eventuelle Rückfragen zu erreichen sei. „Möchten Sie vielleicht, dass Sie ein Kollege nach Hause fährt?“
Die Gefragte schüttelte wortlos ihren Kopf, ehe sie aufstand, noch einmal in ein Papiertaschentuch schnäuzte und sich in ihren hellbeigen Kurzanorak pellte. Er passte farblich nahezu perfekt zu ihren hochhackigen Wildlederstiefeletten, auf denen sie schließlich – genauso divenhaft, wie sie vor gut einer Stunde gekommen war – von dannen stakte.
„Muss ja ein ganz schönes Früchtchen gewesen sein, diese Franzi“, resümierte Tarhan, nachdem die Tür hinter Jasmin Bartzsch mit einem metallischen Klacken ins Schloss gefallen war, während ihre Hand wie ferngesteuert ein weiteres Mal in die Cremedose auf ihrem Schreibtisch griff.
„Klingt in der Tat nach einem rasanten Liebesleben“, tat Sebastian mit einem verschmitzten Grinsen seine Sicht der Dinge kund. „Einen Freund, den sie pausenlos hintergeht, eine Affäre mit dem Chef. Dazu diverse Lover und One-Night-Stands. Vorausgesetzt natürlich, dass uns diese Püppi die Wahrheit gesagt hat. Wer weiß, wer oder was da sonst noch so im Verborgenen schlummert.“
„Auf alle Fälle dürfte sie einigen Leuten ziemlich gute Gründe geliefert haben, ihr etwas Böses zu wollen, allen voran natürlich ihrem Boyfriend“, stellte Elin nüchtern fest. „Oder würde es dir etwa gefallen, wenn deine Liebste ständig mit irgendwelchen Typen in die Kiste springt?“
„Du meinst, dieser Jonas könnte unser Mann sein?“
„Er hätte zumindest ein starkes Motiv …“
„… genau wie ihr Boss und vermutlich eine lange Liste weiterer Herren“, fiel ihr Treblow ins Wort. „Und nicht zu vergessen, diese aufgebrezelte Tante, die ihren hübschen, kleinen Hintern vor wenigen Minuten da raus bewegt hat; jede Wette, dass die auch was mit ihrem Chef hatte. Und das ganz bestimmt nicht, weil der Doc so ein toller Liebhaber ist. Die Weißkittelfraktion hat in aller Regel ganz andere Vorzüge, auch wenn sie immer rumjammern.“
„Du meinst Geld?“
„Hundert Punkte, Frau Kommissarin“, kam es umgehend süffisant zurück. „Solchen Tussen geht es meistens nur um die Kohle. Vielleicht hat sie sich ja in ihrem Spatzenhirn ein Luxusleben an seiner Seite erhofft“, philosophierte er weiter, „doch irgendwann hatte er einfach genug von ihr und sich schließlich ein neues Betthäschen gesucht, nämlich Franziska Klein.“
„Hältst du das nicht für ein bisschen weit hergeholt?“
„Im Moment denke ich einfach nur laut.“
„Hat irgendwie was von Stutenkrieg“, entgegnete Tarhan leicht frotzelnd. „Es fällt mir allerdings ziemlich schwer, diesem Püppchen ein Verbrechen mit solcher Brutalität zuzutrauen, allein schon rein körperlich.“
„Erstens: Wenn man Mörder an Äußerlichkeiten erkennen würde, wäre unsere Arbeit um ein Vielfaches leichter. Zweitens: Hass kann bekanntlich Berge versetzen. Und drittens: Wer sagt denn, dass sie es allein gemacht hat?“, führte Treblow stoisch die wichtigsten Argumente für seine Theorie ins Feld. Dass Jasmin Bartzsch die Kommissare auf die Spur der unbekannten Toten gebracht und ihnen damit einen zweifelsohne überaus wertvollen Dienst erwiesen hatte, sprach sie nicht automatisch von jeglichem Verdacht frei. Schließlich kommt es immer wieder vor, dass Täter sich den ermittelnden Beamten wie selbstlose Helfer regelrecht anbiedern, um sich auf diese Weise möglichst von vornherein aus der Schusslinie der Untersuchungen zu nehmen. Außerdem konnte niemand mit Sicherheit wissen, ob die herzzerreißenden Heulkrämpfe tatsächlich aufrichtig waren oder lediglich als Tarnung dienten. In den fast anderthalb Stunden ihres Gespräches hatte sie den Polizisten beinahe das komplette Programm geboten: Stottern, Tränen, Verzweiflung, Aufatmen, Hoffnung, Lachen. Die auffälligen Schwankungen ihrer Gemütslage ließen sich nun mal nicht so einfach wegdiskutieren.
„Vielleicht gibt es ja noch mehr enttäuschte Ex-Geliebte von diesem Onkel Doktor“, warf Elin schließlich einen neuen Gedanken in den Raum.
„Worauf du einen lassen kannst“, kam es umgehend zurück. „Wenn der Typ wirklich so ein Schwerenöter ist, wie die Bartzsch behauptet, dann gibt es die nicht nur vielleicht , sondern ganz bestimmt.“
„Also sollten wir ihm schnellstens einen Besuch abstatten“, schlug Tarhan vor. „Ich glaube, das bringt uns im Moment am weitesten.“
„Adressen“, ergänzte ihr Mitstreiter pragmatisch. „Wir müssen die Wohnanschrift von diesem Jonas rausfinden. Ich möchte so schnell wie möglich mit dem Jungen sprechen.“
„Vor allem solltest du mit deiner Tochter sprechen. Wenn ich mich recht entsinne, wolltest du sie anrufen.“
Der Kommissar schluckte kurz und tat so, als hätte er die Bemerkung seiner Kollegin überhört. „Die Wohnung von diesem Mädchen, wo war die doch gleich?“
„Warnemünde, Kirchnerstraße. Aber erst …“ Sie kam nicht dazu, zu Ende zu sprechen.
„Das sollten wir als erstes angehen“, fiel Treblow ihr stattdessen ins Wort. „Vor allem brauchen wir etwas für den DNA-Abgleich …“
„Sebastian, deine Tochter!“, mahnte Elin erneut. „So viel Zeit muss sein, okay?“
„Ja, ich weiß. Aber wir …“
„Schluss jetzt. Kein Aber. Du rufst jetzt Mel an!“, fauchte sie in ungewohntem Befehlston. „Was bist du bloß für ein Rabenvater?“
Beinahe beschwörend hob der Gescholtene seine Hände und zog eine Miene, die signalisierte, dass sein Widerstand endgültig gebrochen war. Wie ferngesteuert griff er nach seinem Handy und betätigte die Wahlwiederholung. Nach einer gefühlten Ewigkeit drang ein abtörnendes „Waaas?“ vom anderen Ende der Leitung an sein Ohr. Es war weit mehr als der stille Protest eines pubertierenden Mädchens. Eigentlich wusste Melanie seit ihrer frühesten Kindheit, dass es für ihren Vater nur selten geregelte Arbeitszeiten gab, und hatte bald gelernt, diesen Umstand mit all seinen Konsequenzen zu akzeptieren. Sein Job war es nun mal, Verbrecher zu jagen und so bald wie möglich hinter Schloss und Riegel zu bringen. Und solche Leute betreiben ihr kriminelles Handwerk eben, wann immer ihnen danach ist. Sie fragen nicht danach, ob es Wochenende, Ostern oder Weihnachten, früh am Morgen oder mitten in der Nacht ist, allein, weil ihr frevelhaftes Naturell einfach auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt.
Читать дальше