„Davon gehe ich mal aus“, entgegnete Jasmin zögerlich. „Aber was versprechen Sie sich davon?“
„Na was wohl? Informationen über Franziska Klein“, blaffte Sebastian unnötig scharf. „Ich nehme an, Sie kennen Pacholskis Privatanschrift?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er der Gefragten wortlos Papier und Stift herüber.
Bereitwillig kritzelte sie die gewünschten Angaben auf den Zettel, ehe beides wieder zu Treblow zurückwanderte.
Ein schrilles Läuten durchbrach die Stille ohne jede Vorwarnung. Als hätte sie den Anruf sehnlichst erwartet, griff Oberkommissarin Tarhan sofort nach dem Hörer und führte ihn eilig an ihr linkes Ohr, ehe sie sich vorschriftsmäßig mit Namen und Dienstgrad meldete. Der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung schien einen Monolog zu führen, der allenfalls sporadisch von einem gelegentlichen „Ja“ aus Elins Mund unterbrochen wurde. Nach nicht einmal einer Minute war das Telefonat dann auch schon wieder beendet. „Frau Büttner.“ Es bedurfte lediglich dieser zwei Worte sowie eines seichten, kaum wahrnehmbaren Nickens, damit Sebastian verstand. Schließlich waren die beiden seit Jahren ein verschworenes Team und verstanden sich geradezu blind. Wie in einer eingespielten Fußballmannschaft kannte der eine die Laufwege des anderen, dessen Gedanken, die Mimik und Gestik sowie natürlich auch seine Marotten.
„Wissen Sie etwas über Franzi? Haben Sie sie gefunden?“ Das Mädchen mit der Modelfigur starrte mit weit aufgerissenen Augen ziellos in die Gegend. Hilfesuchend wanderten ihre Blicke wie das Pendel einer Uhr zwischen den beiden Ermittlern hin und her.
Treblow ließ sich für einen Moment in seinen Bürosessel zurückfallen und atmete tief durch, als wolle er dadurch die unangenehme Wahrheit noch für ein paar Millisekunden zurückhalten. „Frau Bartzsch, wie es aussieht, haben wir Ihre Freundin gefunden. Der endgültige Beweis steht zwar noch aus, aber wir müssen davon ausgehen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.“
Es traf sie wie ein gewaltiger Tritt in die Magengrube, und ein Meer aus Tränen ergoss sich augenblicklich über ihr schmales Gesicht. Pechschwarze Rinnsale ausgelaufener Mascara überfluteten ihre mit viel zu viel Rouge gepuderten Wangen.
Elin öffnete eine Schublade ihres Schreibtischs, kramte eine Packung Zellstofftaschentücher hervor und reichte sie der jungen Frau. Sie selbst griff in die Creme-21-Dose und begann, sich an der nächsten Büroklammer zu schaffen zu machen. „Wie mein Kollege bereits sagte, wissen wir noch nicht hundertprozentig, ob sie es wirklich ist. Aber im Moment spricht leider einiges dafür.“ Es war ein ebenso krampfhafter wie vergeblicher Versuch, noch ein klitzekleines Fünkchen einer Hoffnung aufrechtzuerhalten, die in Wahrheit längst gestorben war. Jasmin heulte wie ein Schlosshund, denn – so sehr sie sich innerlich auch gegen die grausame Erkenntnis wehren mochte – ihr war längst klar, dass die Chance, ihre Freundin könnte noch am Leben sein, mittlerweile stark gegen Null tendierte.
„Es tut mir leid, Frau Bartzsch. Aber ich muss Sie das fragen“, versuchte Sebastian schließlich, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. „Wo waren Sie gestern Abend zwischen zehn und zwölf?“
„Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte sie …“ Sie brachte es nicht übers Herz, die grausige Vokabel auszusprechen.
„Im Moment glauben wir gar nichts“, beschwichtigte Treblow. „Es ist nur eine Routinefrage mit der Bitte um eine einfache Antwort.“
„Ich war zu Hause und hab stundenlang auf Franziska gewartet. Wie schon gesagt, wir wollten uns eigentlich einen gemütlichen Abend machen und heute nach Berlin.“
„Sie sagten, Sie hätten sie wiederholt angerufen.“
„Ja, das habe ich, immer und immer wieder. Aber sie hat sich nicht gemeldet. Ich blöde Kuh, ich hätte mir doch denken können, dass da etwas nicht stimmt“, schluchzte sie. „Ich hätte es verhindern können, nein, ich hätte es verhindern müssen . Wahrscheinlich würde sie noch leben, wenn ...“ Sie schaffte es nicht, den Satz zu vollenden. Stattdessen feierten die Tränen in ihren Augen ein trauriges Comeback.
„Nicht doch. Sie trifft keine Schuld“, versuchte Tarhan sie zu beruhigen. Es entstand eine Pause von mehreren Minuten, bis sie schließlich das Gefühl hatte, ihr Gegenüber könnte für weitere Fragen wieder empfänglich sein. „Erinnern Sie sich, wann genau Sie Ihre Freundin gestern Abend angerufen haben?“
„Also, das erste Mal müsste so gegen acht gewesen sein, vielleicht auch etwas später. Aber ich hab´s danach noch ein paar Mal versucht.“
„Und wie lange?“, hakte Treblow nach.
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Na ja, so bis um zehn vielleicht.“
„Und dann?“, wollte er wissen.
„… hab ich´s irgendwann aufgegeben“, setzte sie seinen Satz fort.
„Und was haben Sie gemacht, nachdem Sie es aufgegeben hatten?“
„Ich hab ein Bad genommen, noch ein bisschen gelesen und bin dann ziemlich schnell schlafen gegangen“, zählte die Gefragte auf.
„Moment mal“, echauffierte sich der Kommissar. „Jetzt nochmal zum Mitschreiben: Sie waren mit Frau Klein verabredet, aber sie ist nicht gekommen. Richtig?“
Betretenes Nicken.
„Daraufhin haben Sie mehrfach bei ihr angerufen, aber sie nicht erreicht. Richtig?“
Erneut betretenes Nicken.
„Und nach alledem haben Sie nichts Besseres zu tun, als seelenruhig ein Bad zu nehmen, ein bisschen zu lesen und ins Bett zu gehen. Und heute kommen Sie hierher und spielen uns die besorgte Freundin vor.“
„Ich dachte, sie und Pacholski …“, stammelte die Angesprochene kleinlaut ohne den Satz zu vollenden, aber ihre Miene sprach Bände. „Und außerdem war ich hundemüde und wollte einfach nur noch ins Bett.“
„Gibt es vielleicht jemanden, der Ihre Angaben bestätigen kann?“ Sebastian klang beinahe gelangweilt, war in Wirklichkeit aber alles andere als das, sondern versuchte nur einfach, seine Abneigung gegen diese Frau so gut es ging zu kaschieren, ohne dass es ihm vollständig gelang.
„Was soll das? Was wollen Sie von mir?“, platzte es aus ihr heraus. Sie wirkte aufgebracht, als hätte man ihr soeben Hochverrat vorgeworfen. Tränen der Wut schossen aus ihren mascaraverschmierten Augen. Sie rang nach Luft, ihr Puls raste, das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Sie verdächtigen doch nicht etwa mich ?“
„Noch verdächtigen wir niemanden“, beschwichtigte Tarhan sie in ruhigem Tonfall. „Bisher wissen wir ja nicht mal mit letzter Sicherheit, ob es sich bei dem Opfer tatsächlich um Franziska Klein handelt.“
„Und warum fragt er mich dann sowas?“, entgegnete Jasmin Bartzsch mit näselnder Stimme. Sie fingerte ein neues Zellstofftaschentuch aus der angerissenen Packung, die vor ihr auf dem Tisch lag. Ihr Makeup war inzwischen zu einer grotesken Maske zerlaufen, und der neuerliche Versuch, ihre Tränen wegzuwischen, machte die Situation keinesfalls besser. Mittlerweile sah sie im Gesicht aus wie eine Figur aus einer Geisterbahn.
„Glauben Sie mir, wir machen nur unsere Arbeit. Wenn wir Klarheit betreffs Ihrer Freundin haben wollen, müssen wir einfach jede Möglichkeit in Betracht ziehen“ erörterte Elin, um Treblow gleichzeitig mit einem unmissverständlichen Augenaufschlag zu einer Spur mehr Taktgefühl zu mahnen. „Also, wären Sie so freundlich, die Frage meines Kollegen zu beantworten?“
Die Angesprochene schluchzte und brauchte einige Sekunden, um ihre Fassung wiederzugewinnen. „Seit ich vor gut fünf Monaten mit Kevin Schluss gemacht habe, bin ich Single und wohne allein. Ich habe geschlafen. Und zwar allein , wie seitdem fast immer.“ Mit jedem Wort schwoll ihre Stimme weiter an. „Manchmal wünschte ich, es wäre anders. Aber es ist nicht anders. Und deshalb gibt es leider niemanden, der das bestätigen kann. Bin ich jetzt etwa verhaftet, nur weil ich zurzeit keinen Stecher habe?“
Читать дальше