Der Professor blieb noch einen kurzen Moment und ließ die beiden dann alleine. Peter bemerkte Tinas Zurückhaltung und setzte sich in den Stuhl, der gegenüber von ihrem Rollstuhl stand. Er wollte mit ihr auf einer Höhe sein, um sie nicht noch mehr einzuschüchtern in dem sie zu ihm aufschauen musste um mit ihm zu reden. "Schön, dass es dir gut geht Liebes.", begann er vorsichtig. "Ich bin Peter. Dein Ehemann. Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Wenn du irgendwelche Fragen an mich hast, dann stell sie mir einfach. Ich weiß auch nicht so ganz genau wie ich mit der Situation umgehen soll." Das konnte sich Tina nun ganz und gar nicht vorstellen. Er wirkte auf sie wie ein Mann der in jeder Situation genau das Richtige zu tun wusste. "Haben wir Kinder?", fragte sie deshalb nur. "Nein, noch nicht. Aber wir hatten vor in der nächsten Zeit welche zu haben!", antwortete er mit einem Lächeln im Gesicht, das sie erröten ließ. Alleine die Vorstellung mit diesem Mann Kinder zu haben..... ! Aber sie hatte momentan ganz andere Sorgen. Und irgendwie musste sie ihr zukünftiges Leben wohl meistern, auch ohne Erinnerung. Und wenn dieser Mann ihr dabei helfen würde. Gerne. Sie hatte ihn schließlich einmal geheiratet. Also konnte sie gar nicht anders als ihm ihr Vertrauen zu schenken. Er schien genau zu wissen was zu tun war, also würde sie sich gerne in seine Hände begeben. Schüchtern und vorsichtig griff sie nach seiner Hand. "Danke!", sagte sie nur. "Wofür?", fragte er. "Einfach nur dafür, dass du für mich da bist. Ich weiß nämlich gar nicht wie ich das sonst alles schaffen würde. Bitte, zeig mir mein Leben!" Sie war fest entschlossen. Wenn es das war, was das Schicksal ihr bot dann war es bestimmt nicht das Verkehrteste. Was passiert war, dass sie sich an nichts erinnern konnte sollte sie im Moment nicht besonders interessieren. Sie wollte einfach gesund genug werden, um mit diesem Mann die Zukunft zu begehen.
Sie unterhielten sich noch eine Weile. Tina stellte ein paar Fragen und Peter beantwortete sie so einfach wie es ging. Der Professor kam nach etwa einer Stunde ins Zimmer zurück und sah, dass die Situation sich ganz gut entwickelte. Er freute sich sehr darüber. In den Händen hielt er eine Broschüre mit Informationen über die Klinik, in der Tina die nächsten zwei Wochen verbringen sollte. Sie war nicht sehr weit entfernt. Circa eine Stunde Autofahrt entfernt lag der "Sonnenhof. Klinik zur "Medizinischen und beruflichen Rehabilitation". Auf den Hochglanzbildern war ein schönes großes Haus abgebildet, bei dem man eher auf ein Urlaubshotel schließen könnte. Ein Pool und ein großer Garten rundherum vervollständigte das Bild von einem schönen, ruhigen Plätzchen mitten im Grünen. Tina gefiel was sie sah und sie freute sich insgeheim sogar darüber dort ein paar Tage der Ruhe genießen zu können. So könnte sie sich auf die Zukunft mit Peter gedanklich und körperlich vorbereiten, ohne sofort in ihr "Neues, altes Leben" zurück gedrängt zu werden.
Auch Peter erklärte sich mit der, vom Professor ausgesuchten, Klinik einverstanden. Da alles bereits telefonisch von Prof. Wollersheimers Sekretärin in die Wege geleitet worden war, konnten sie sich auch gleich auf den Weg dorthin machen. Peter stand auf und stellte sich, wie selbstverständlich hinter Tinas Rollstuhl. Der Professor ging voran und Peter schob sie nach draußen auf den Flur des Krankenhauses. Dort überkam sie auf einmal doch ein etwas beklemmendes Gefühl. Das Zimmer hatte ihr doch ein wenig Sicherheit geboten, aus der sie jetzt unvermittelt herausgenommen wurde. Aber das Gefühl dauerte nicht allzu lange an. Sie freute sich auch ein wenig auf die Zukunft und war gespannt darauf, was nun auf sie zukam. Peter plagte allerdings das schlechte Gewissen. Hatte er wirklich das Richtige vor? Würde man denken, dass er ihr die Möglichkeit nahm sich zu erinnern wenn er ihr nicht das wirkliche Leben präsentierte? Allerdings hatte der Professor ihm auch nicht davon abgeraten. Wenn die Zeit kommt, dass sie sich erinnert, wird es wohl kaum einen Riesen-Unterschied machen, ob sie in der Villa oder dem Gästehaus direkt daneben wohnen würden. Mit diesen Gedanken versuchte er sich selbst und sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Gemeinsam fuhren sie mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Tina machte auf einmal einen total verängstigten Eindruck, als die Tür des Fahrstuhles sich hinter ihnen schloss. Peter sagte nichts, doch er merkte sehr wohl die Veränderung in ihrem Verhalten. Sie rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück nach unten und zog ihren Kopf ein. Ängstlich blickte sie, aus leicht zusammengekniffenen Augen umher. Aber so schnell wie sie nach unten gefahren waren, öffneten sich auch schon wieder die Türen und der Moment der offensichtlichen Panik in ihrem Verhalten war vorbei. Es war ihr wohl selbst auch gar nicht bewusst geworden. Denn sie ließ sich nichts anmerken, als sie sich im hell erleuchteten Foyer der Klinik befanden. Der Professor überreichte Peter die Entlassungspapiere und drückte beiden zum Abschied die Hand. Ein Pfleger begleitete sie bis zum Parkplatz, um den Rollstuhl zum Klinikgebäude zurückzubringen. Tinas Augen wurden groß, als sie bemerkte auf welches Auto Peter da zusteuerte. Das Cabriolet war doch eine Klasse für sich aber sie sagte nichts. Ihr wurde nur wieder einmal bewusst, wie wenig sie doch über diesen Mann und ihr bisheriges Leben wusste. Waren sie etwa vermögend? Das Auto sah ganz danach aus. Peter half ihr, sich auf den Beifahrersitz zu setzen, ging um das Auto herum und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Im Kofferraum hatte er bereits einen Koffer und eine Reisetasche mit Tinas wichtigsten Kleidungsstücken, für die ersten paar Tage in der neuen Klinik deponiert. Als er ihren begehbaren Kleiderschrank betreten hatte, war er zunächst einmal überfordert gewesen. Voll von teuren Designerkostümen und Schuhen war es nicht einfach gewesen, die einfachsten Stücke herauszusuchen. Aber er hatte sich durchgekämpft und Wäsche, Jogginganzüge, Jeans und T-Shirts fürs Erste gefunden und ordentlich in eine Reisetasche gepackt. Zwei Paar Turnschuhe und eine Weste für kältere Tage hatte er auch noch gefunden und in einen kleinen Koffer, zusammen mit Waschzeug, Cremes und Co. gepackt. Dabei fiel ihm auf wie wenig er doch offensichtlich über die Frau wusste, mit der er doch schon so lange verheiratet war. Aber das sollte sich nun alles ändern. Der Neuanfang war gemacht. Er würde alles dafür tun, damit sich Tina wohlfühlte und sie wieder miteinander glücklich werden würden.
Eine ganze Weile fuhren sie nun schon schweigend in südlicher Richtung auf der Landstraße entlang. Nach etwa zwanzig Minuten bog Peter ab, um den Rest des Weges durch mehrere kleine Ortschaften zu fahren. Tina fand großen Gefallen an der schönen Landschaft. Erdbeer- und Spargelfelder wechselten sich ab mit kleinen Waldstücken, um dann wieder Platz zu machen für Wohngebiete. Ihre flatternden Haare hatte sie längst zu einem Zopf zusammengebunden. In ihrem weißen Shirt und ihren hellblauen Jeans sah sie aus wie ein junges Mädchen. Das Mädchen, das er damals kennengelernt hatte. Peter erwischte sich dabei, wie er immer wieder einen Blick nach rechts wagte um ihr ins Gesicht zu schauen. Sie war kaum geschminkt und ihre natürliche Schönheit hatte er schon lange nicht mehr zu sehen bekommen. Wenn sie morgens ihr Schlafzimmer verließ, hatte sie jedes Mal schon ihr Make-up aufgelegt und abends war sie genauso makellos geschminkt wieder in ihrem Zimmer verschwunden. Schon viel zu lange hatten sie ihr Bett nicht mehr geteilt. Es wurde Zeit, dass sich daran etwas änderte. Im Gästehaus würde es keine zwei Schlafzimmer geben.
Sie genoss die Fahrt sichtlich und er lenkte sicher das Fahrzeug Richtung "Sonnenhof". Auf dem letzten Stück der Strecke mussten sie einen Tunnel durchfahren. Als sie hineinfuhren bemerkte Peter, dass Tina das gleiche Verhalten wie schon im Fahrstuhl an den Tag legte. Ganz offensichtlich hatte sie unbewusst Angst. Entweder war es die plötzliche Dunkelheit, oder die durch die Tunnelwände entstandene Enge die ihr so unheimlich vorkam. "Ist alles in Ordnung?", fragte er sie. Sie hielt die Luft an. Als sie wieder ausgeatmet hatte antwortete sie. "Alles ok. Ich weiß auch nicht. Da vorn wird es ja schon wieder hell …. Gott sei Dank." Tatsächlich. Der Tunnel hatte nur eine Länge von knapp zwei Kilometern und war schnell durchfahren. Als sie wieder hinausfuhren sah Peter auch schon das erste Schild, das auf den "Sonnenhof" hinwies. Noch zwei kleinere Ortschaften und sie waren dort. Inmitten einer grünen, hügeligen Landschaft war das Rehabilitationszentrum gelegen. Peter fuhr zum Parkplatz für Neuankömmlinge und half Tina dabei aus dem Auto zu steigen. Sie musste sich bei jedem ihrer Schritte auf ihn stützen. Allerdings hatten sie es nicht sehr weit bis zur Anmeldung im Eingangsbereich. Tina setzte sich auf einen Sessel, während sich Peter an die Dame am Empfang wandte. Sie wurden bereits erwartet und ihr Zimmer war hergerichtet. Sie bekamen noch einige Informationen darüber wie Tinas kommende zwei Wochen aussehen würden. Neben der Anmeldung gab es den Zimmernummern zugehörige Postfächer für die Patienten. Tina verzichtete auf das Angebot eines Fernsehapparates. Peter unterschrieb die nötigen Papiere und kümmerte sich um alles Notwendige. Dann begleitete er sie auf ihr Zimmer und überließ sie zunächst der Obhut einer Krankenschwester. Mit einem Kuss auf die Wange und dem Versprechen sich am nächsten Tag zu melden, verließ er sie. Er hatte sich fest vorgenommen Tina so oft wie möglich in den nächsten Tagen zu besuchen. Denn obwohl er sie nicht überfordern wollte, so hatte er doch vor wenigstens zwischendurch ein bis zwei Stunden mit ihr zu verbringen, damit der Aufenthalt zu Hause in zwei Wochen für sie nicht zu viel werden würde. Schließlich musste sie sich allmählich wieder an ihn gewöhnen.
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