»Nein, ganz und gar nicht. Und diese überdimensionale Sonnenuhr heißt Samrat Yantra, was das „höchste Instrument“ bedeutet«, erklärte Paigam Kalzang. »Anhand der Schatten auf den Treppenstufen konnten unsere Vorfahren, sofern sie das nötige Knowhow besaßen, ablesen, wann die Regenzeit begann oder die beste Zeit zum Aussäen war. Toll, nicht?«, meinte Paigam, woraufhin er die Gelegenheit nutzte, das Gespräch auf die unerforschten Weiten des Alls zu bringen. »Interessieren Sie sich für Astronomie und ferne Himmelskörper, die womöglich der Erde gleichen?«
»Ehrlich gesagt, weniger. Ich finde, man sollte zuerst die Probleme auf der Erde lösen, bevor man auf die Suche nach fernen Welten geht, egal ob bewohnt oder unbewohnt.«
»Verstehe, und wenn man uns besucht? Eine Außerirdische Intelligenz könnte über ganz andere technische Möglichkeiten verfügen als wir. Es gibt Autoren, die meinen, wir hätten schon in grauer Vorzeit Besuch erhalten. Andere gehen sogar so weit, zu behaupten, der Mensch wäre genetisch verändert worden, um zu dem zu werden, was er heute ist.«
»Meines Erachtens verlagert man damit nur die Schöpfung an einen anderen Ort«, sagte Ananda. »Wenn der Mensch nicht auf der Erde erschaffen wurde, sondern man uns evolutionsmäßig erst auf die Sprünge helfen musste, woher kamen dann die uns überlegenen Wesen?«
»Das ist die Frage«, antwortete Paigam lächelnd.
»Und um es gleich vorwegzunehmen, ich halte diese Berichte über Ufos für ausgemachten Blödsinn.«
Nun, vielleicht änderst du heute noch deine Meinung, dachte Paigam, schwieg aber beharrlich.
Nachdem sie in einem der Restaurants im Hotel zu Mittag gegessen hatten, suchten sie den Tagungsraum auf, der bereits von einigen Teilnehmern bevölkert war, die Paigam Kalzang freundlich begrüßten.
»Darf ich Ihnen Ananda Tsomo aus Leh vorstellen?«, sagte Paigam zu einer älteren Dame mit kostbarem Sari. »Ihr Sohn wird seit 2007 vermisst. Das ist Camaka Lanee. Fragen Sie mich lieber nicht nach der Bedeutung ihres Namens.«
»Willkommen, mein Kind. Der tiefere Sinn meiner beiden Namen ist ganz einfach. Für Camaka gibt es keinen, und Lanee heißt reiche Tante , was unser Paigam Kalzang natürlich genau weiß, aber in seiner vornehmen Zurückhaltung für sich behält. Die reiche Tante stimmt übrigens, ich verfüge zum Glück über ein beachtliches Vermögen.«
Alle lachten, und das Eis war fürs Erste gebrochen.
„Darf ich fragen, ob sie auch einen geliebten Menschen vermissen?«, fragte Ananda.
»Natürlich, sonst wäre ich nicht hier. Meine damals siebzehnjährige Tochter ist vor zehn Jahren verschwunden, und bis heute gibt es keine Spur.«
»Aus welcher Gegend kommen Sie?«
»Aus derselben wie unser Paigam, Himachal Pradish. Ich wohne in der Hauptstadt Mandi, während Paigam in Shimla lebte, bis er zu Ihnen nach Leh gezogen ist. Obwohl wir in derselben Region lebten, sind wir uns erst hier begegnet.«
In diesem Moment gab ein elegant gekleideter Herr Paigam ein Zeichen, ihre Plätze einzunehmen. Als ihn alle erwartungsvoll ansahen, hielt er eine kleine Rede.
»Ich begrüße Sie alle herzlich zu unserem Treffen«, begann er. Sein Sherwani - ein langes Jackett mit Stehkragen, schon mehr ein Mantel, das Herren in Indien zu festlichen Anlässen trugen, war aus kostbarem Stoff. Dazu trug er die typische Pyjama Hose - Dhoti aus dem gleichen Stoff. Seinen Kopf zierte kein Turban, aber sein kurzer Haarschnitt war äußerst korrekt, und über der Schulter lag der unverzichtbare Dupatta - Schal.
»Für diejenigen, die mich noch nicht kennen – mein Name ist Dhiren Tinle, und meine beiden Kinder sind schon mehrmals entführt worden«, sprach er weiter. »Da wir heute drei neue Teilnehmer haben, möchte ich Sie bitten, sich kurz vorzustellen und in wenigen Worten Ihre Geschichte zu erzählen.« Er nickte einem jüngeren Mann zu seiner Linken zu, der ein weißes Gewand, bestehend aus einer Art Nachthemd und einer Pyjamahose, trug – die sogenannte Kurta Pajama Kleidung.
»Ich heiße Ranjan Nolo, komme aus Janakpur in der Provinz Tarai, und mein Sohn ist schon zweimal verschwunden. Wenn er wiederkommt, hat er kleine Narben, die vollständig verheilt sind, aber vorher nicht da waren.«
»Mein Name ist SamudraSanjay«, sagte der Nächste, der fast gleich wie Paigam gekleidet war, nur in Dunkelgrün. »Ich lebe in Kadmahā, ebenfalls Tarai, und mein Junge wird seit sechs Jahren vermisst.«
Dann kam ein Ehepaar an die Reihe. Er in Sherwani und Dhoti, sie in reich besticktem Sari. »Ich bin Daljit Jaspal, und das ist meine Frau Lalita Nimra. Wir kommen aus Anantnag in der Region Jammu und Kashmir. Meine Frau und ich leiden seit Jahren an Albträumen. Unter Hypnose haben wir von Erlebnissen berichtet, die wir in einem Raumschiff hatten.«
Ananda warf einen irritierten Blick zu Paigam, der tat aber, als bemerkte er nichts.
Jetzt kam Camaka Lanee an die Reihe, deren viele Armreifen bei jeder Bewegung klirrten und zusammen mit den Ketten und Ringen ihr ein Aussehen wie ein geschmückter Weihnachtsbaum verliehen, der in diesem Kulturkreis freilich weniger bekannt war. Nur die großen Hotels stellten ihren Gästen mit christlichem Glauben zu Ehren im Dezember überladene Exemplare aus Kunststoff auf.
»Ja, ich heiße Camaka Lanee, wohne in Mandi, der Hauptstadt der Region Himachal Pradish, und vermisse meine Tochter seit zehn Jahren.«
»Darf ich eine Zwischenfrage stellen?«, meldete sich ein europäisch gekleideter, jüngerer Mann zu Wort. »Ich bin Suman Passang, lebe in Paris, habe aber indische Wurzeln und besuche gerade meine Eltern hier in New Delhi. Mich würde brennend interessieren, was das Ehepaar in dem Raumschiff genau erlebt hat.«
»Nachdem wir uns alle vorgestellt haben, wird genügend Zeit für Diskussionen und neueste Erlebnisberichte sein«, sagte Dhiren Tinle, »deshalb würde ich es begrüßen, in der Reihenfolge weiterzumachen.«
Suman Passang machte eine abwehrende Geste, was heißen sollte, dass er sich geschlagen gab.
Als Nächstes stellte sich eine junge Frau in einem weinroten Salwar Kameez vor, die nur sehr wenig Schmuck, doch eine auffällige Verzierung auf der Stirn trug, den sogenannten Bindi, was sie in Nordindien als verheiratete Frau auswies.
Der rote Punkt, sollte alten Hindu-Sagen nach das Nervensystem kühlen und den Geist ruhig und klar werden lassen. Denn der Punkt auf der Stirn, genau zwischen den Augen, sollte das Hauptnervenzentrum des menschlichen Körpers sein und wurde auch Ajna Chakra, Geistiges Auge oder Drittes Auge genannt. Außerdem vertausendfache sich die Schönheit einer Frau beim Tragen eines Bindi sagte ein Hindu-Sprichwort.
Zwar hatte der Sage nach im alten Indien ein Bräutigam seiner Braut einen Punkt aus seinem Blut auf die Stirn gemalt, aber der Bindi musste nicht zwangsläufig rot sein und hatte keine Standardform. Bindu bedeutete im Sanskrit zwar „Tropfen“, doch Hindu-Gläubige trugen stattdessen ein rotes, gelbes oder safranfarbenes „U“ als Anhänger des Gottes Vishnu; wer hingegen Gott Shiva verehrte, trug drei horizontale Linien aus Asche - Bhasma auf. Bei Männern war es ein längliches Mal – tilaka. Anderen Sagen zufolge schützte das Zeichen vor dem bösen Blick.
»Mein Name ist Savera Namgang«, sagte die junge Frau mit dem Bindi. »Ich komme aus Bīrendranagar in der Provinz Tarai, weiß aber nicht, ob ich hier richtig bin. Mein Kind ist zwar auch entführt worden, aber ich glaube eigentlich nicht an Ufos und Außerirdische.« Damit sprach sie offen Anandas Gedanken aus, die die junge Frau für ihre Ehrlichkeit bewunderte.
»Auch damit sind Sie nicht alleine«, sagte Dhiren Tinle lächelnd. »Einigen unserer Teilnehmer ging es anfangs ebenso, aber inzwischen hat sich das geändert, oder?« Dhiren Tinle blickte in die Runde und erhielt ein mehrfaches zustimmendes Nicken. »Unser Gast aus den USA wird uns morgen noch Spannendes darüber zu berichten haben.«
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