Mitleidig blickt sie auf den Jungen hinunter. Sie ist längst nicht so optimistisch, wie sie tut, denn sie hat doch arge Zweifel hinsichtlich ihrer ärztlichen Fähigkeiten. Es ist schon ein himmelweiter Unterschied, sich einen Splitter aus dem Finger zu ziehen oder einen Gaul zu bandagieren, als einen Menschen, der eh mehr tot als lebendig ist, vor sich zu haben.
,Hilflos ausgeliefert, die arme Socke‘, denkt sie, dreht sich um und geht zu dem am Boden liegenden Kutscher, um bei ihm nach einem geeigneten, möglichst spitzen Messer zu suchen.
Wenn sich das Kind ehrliche Gedanken zugestehen würde, würde sie zugeben, dass sie gar nicht ganz genau weiß, was sie eigentlich unternehmen will. Sie hat zwar bei ähnlichen „Operationen“ schon zugesehen, aber zusehen oder selber machen, ist doch ein Riesenunterschied. Ihre Gefühle sind eigentlich sehr zwiespältiger Natur. Handeln oder Weglaufen, das ist hier die Frage. Weglaufen kommt ihr aber gar nicht erst in den Sinn, also bleibt nur noch zu handeln.
Das Mädchen hat Glück, obwohl sie persönlich arg im Zweifel ist, ob es nicht eher Pech ist, dass sie ein sehr scharfes, sehr spitzes Messer findet.
Wenig später kniet sie wieder neben dem Angeschossenen. Der Cowboy, der ihr im nun folgenden Geschehen vollkommen hilflos ausgeliefert sein wird, ist von den Schmerzen schon wieder ohnmächtig geworden. Das beherzte rothaarige Mädchen ist erleichtert, denn das vereinfacht die ihr bevorstehende, widerliche Aufgabe enorm.
Mit zitternden Händen öffnet das Girl das Hemd des Verletzten und schnappt nach Luft. In der Hitze riecht die Wunde gar nicht wie Parfum. Eingehend betrachtet sie den sauberen Einschuss. Da sie keine Austrittswunde entdecken kann, muss die blöde Kugel noch irgendwo stecken. Das Einschussloch befindet sich im Rippenbereich. Der Junge spuckt kein Blut, das ist wohl schon mal ein ganz gutes Zeichen. Irgendetwas von Lunge und schaumigem Blut schießt ihr durch das hübsche Köpfchen. Allerdings tritt noch immer frisches Blut aus der Wunde aus. Sie rümpft die Nase. Ist das nun gut? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber was soll‘s.
Das Mädchen ballt ihre noch immer zitternden Hände zu Fäusten, atmet mehrmals tief ein und aus und ermahnt sich zur Ruhe. Schlimmstenfalls stirbt der Knabe und diesem Zustand ist er im Augenblick sowieso näher, als dem Leben. Und wenn er nicht stirbt, hat sie ein gutes Werk getan.
Die Möchtegernlebensretterin steht noch einmal müde auf, jeder einzelne Knochen in ihr fühlt sich bleischwer an, geht zu einem Gepäckstück neben der Kutsche, öffnet es entschlossen und zieht mit spitzen Fingern ein Herrenunterhemd und riesige weiße Taschentücher hervor. Eine feine Qualität. Dem Cowboy gehören die Sachen bestimmt nicht und den anderen Herren stört die Entnahme auch nicht mehr. Danach holt sie sich noch eine gefüllte Wasserflasche vom Kutschbock, bekämpft ihre erneut aufsteigende Übelkeit, schlägt zornig nach den ersten, schnell eingetroffenen Fliegen, schluckt dreimal heftig, wie um alle guten Geister zu beschwören und beginnt ihr schwieriges Werk.
Zunächst füttert sie noch einmal das Feuer mit dürren Ästen und trockenen Grasbüscheln, dann hält die junge Frau das Messer in die Flammen, bis es beginnt zu glühen und ihre Finger schon ganz heiß werden. Sie ignoriert den dabei aufkommenden Schmerz und fängt vorsichtig an, die Wunde auszuschälen.
Vor lauter Aufregung hat sie einen knallroten Kopf bekommen. Der Schweiß läuft ihr in Strömen den Körper hinab, ihr Hemd ist schon nach Sekunden klatschnass und klebt am Körper, sie merkt es nicht. Genauso feucht ist ihr dichter Pony, den sie immer öfter aus der Stirn pustet. Der Schweiß läuft ihr in die Augen und diese fangen dadurch an zu tränen. Der Geruch der Wunde raubt ihr fast die Sinne und sie befürchtet ohnmächtig zu werden und um dieses zu verhindern, gönnt sie sich keine Sekunde, keinen Atemzug Pause.
Mit einem Mal bemerkt sie, dass sie an etwas Hartes stößt. Es klingt aber nicht metallisch, sondern eher wie Holz. „Mist, jetzt habe ich an einer Rippe gekratzt.“ Sie hält kurz inne, atmet tief ein und ermahnt sich erneut zur Ruhe.
Endlich hält sie das Geschoss in der Hand. Mit einem fast erleichterten Aufatmen betrachtet sie es. Es wirkt kaum verformt. ‚Gut? Nicht gut? Ich habe keine Ahnung!‘ Schnell lässt sie die blutige Kugel in ihrer Westentasche verschwinden, ein Andenken an diesen grauenvollen Tag.
Nun wischt sie sich seufzend mit dem Handrücken über das Gesicht. Der junge Mann stöhnt leise. Mit blutigen Fingern greift sie nach dem geborgten Unterhemd und tupft vorsichtig um die Wunde herum. Danach reibt sie ihrem „Opfer“ sanft den Schweiß aus dem Gesicht und zu guter Letzt wischt sie sich an demselben Hemd auch noch das Blut von ihren Händen. Sie bemerkt nicht, dass sie sich bereits jede Menge Blut im Gesicht verteilt hat, welches von kleinen Schweißbächen durchzogen wird.
Als das junge Ding den Mann mehr oder auch eher weniger geschickt mit den Taschentüchern und in Streifen gerissenen Hemden verbunden hat, reibt sie ihm nochmals den Schweiß aus dem Gesicht und betrachtet ihn dabei eingehend. Irgendetwas geht von ihm aus, das ein unbestimmbares Gefühl in ihr hervorruft und sie an etwas längst Verschüttetes erinnert. Sie schüttelt unwillig den Kopf, wie um böse Gedankengeister zu vertreiben und schilt sich eine dumme Gans.
Der Knabe ist noch immer ohne Bewusstsein
, Auch gut‘, denkt die junge Dame und geht nochmals zur Kutsche hinüber, greift nach den Wasserflaschen der Kutscher und füllt ihre eigenen Flaschen bis an den Rand. Es ist zwar nicht mehr sehr weit bis zur Stadt, es können ihrer Einschätzung nach nur noch ein paar wenige Meilen sein, aber wenn man einen Verwundeten bei sich hat, ist es ein wesentlich besseres Gefühl, wenn man einen genügend großen Wasservorrat mit sich führt, denn dann kann es leicht sein, dass man für eine Meile Stunden benötigt.
Sie wirft einen erneuten Blick auf den Verwundeten, er hat zwischenzeitlich einmal furchtbar gestöhnt und geröchelt, verhält sich aber zum Glück jetzt wieder ruhig. Wahrscheinlich sind die Schmerzen tödlich groß, so groß, dass sie dem Jungen immer wieder das Bewusstsein rauben.
Das Girl greift wieder nach den Wasserflaschen der Kutscher, nimmt einen hellen Stetson von der Erde auf und gibt den Pferden Wasser. Danach nimmt sie sich noch die Zeit, sich um die Toten zu kümmern.
Unter Aufbietung ihrer gesamten Kraftreserven schleppt, zerrt und schleift sie die vier Leichen nebeneinander, dabei kämpft sie wieder mit ihrer aufsteigenden Übelkeit, die sie aber tapfer hinunterschluckt. Zu guter Letzt schichtet sie Kleider, Gepäckstücke und Steine über den Mordopfern auf, um zu verhindern, dass sich sofort Geier und andere Aasfresser über die Ermordeten hermachen, es sind schon genug Fliegen da.
Nun hat sie endlich erneut Gelegenheit, sich wieder um ihren Patienten wider Willen zu kümmern, der noch immer oder schon wieder bewusstlos ist. Er ist totenblass und in der jungen Frau keimt urplötzlich ein ganz grässlicher Verdacht auf.
Vorsichtig sucht sie nach seinem Puls, hoffend, dass ihre Behandlung nicht auch noch ihn getötet hat. Sie findet seinen Puls nicht auf Anhieb und so tastet sie mit wild pochendem Herzen nach seinem Hals.
Endlich spürt sie ein leises, ganz schwaches Pochen unter ihren nervösen Fingerspitzen und atmet erleichtert auf. Noch lebt er, aber wie lange noch. Sie fürchtet, dass der Weg in die nächste Ortschaft zu weit sein könnte.
Eine Weile betrachtet sie den Cowboy liebevoll. Er bringt irgendetwas in ihr zum Klingen, wenn sie nur wüsste, was das ist. „Ich werde mich doch jetzt nicht noch verknallt haben? Unsinn!“, sagt sie zu sich selbst und blickt weiter nachdenklich in das fremde und doch irgendwie eigentümlich bekannte Gesicht. Dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Junge erinnert sie ein wenig an ihren leider schon vor langer Zeit verstorbenen Vater. Er hat genauso blonde Haare, wie ihr Vater sie hatte. Und auch die ganze Mundpartie ist der ihres Vaters so ähnlich.
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