„Der rote Slip! Mir gehört der nicht! Den habe ich heute früh in deiner Hosentasche gefunden. Ein Corpus Delicti, das nicht zu übersehen ist. Du perverser Spinner, der seine Finger nie bei sich behalten kann!“
Amüsierte Blicke streiften die erregte Frau, den grellen Slip, den überraschten Fred, der jedoch kein Hehl aus der Geringschätzigkeit gegen Frauen machte.
„Und noch etwas!“ Die kleine Lady ließ sich von den Herren in den dunklen Anzügen nicht im Geringsten verunsichern.
„Eduard, verzeih mir. Ich habe dich die ganze Zeit belogen. Wir haben damals nicht mit einander geschlafen. Du warst ja viel zu besoffen“, fügte sie leicht verlegen hinzu. „Ich war schon zwei Monate schwanger als wir uns trafen. Von diesem Schwein da. Er wollte dich austricksen, und ich sollte ihm dabei helfen.“
Nun wurden die Herren hellhörig. Höflich aber entschieden baten sie die junge Dame den Raum zu verlassen. Eduard fiel ein Stein von Herzen.
„Es tut mir so leid, verzeih mir.“ Ihre Stimme klang klein und hilflos.
In ruhigem Ton nahm Eduard Behring wenig später das Gespräch wieder auf.
„Meine Herren. Lassen sie uns diese leidige Angelegenheit vergessen.
Die Zeit zur Veränderung ist für mich gekommen. Ich muss unbedingt eine Stelle als Bandleiter finden. Bitte akzeptieren sie meine Kündigung.“
Eduard Behring wollte einen raschen Strich ziehen. Ein neuer Ort. Eine neue Firma. Ein neuer Anfang. Aufmerksam las er die in Frage kommenden Stellenangebote.
War der Wunsch der Vater des Gedanken, war es Fügung, war es Glück? Auf der dritten Seite stand die neue Adresse, mit fetten Lettern gedruckt. Faszinierend, unübersehbar, fordernd.
Unverzüglich setzte er ein Bewerbungsschreiben auf. Noch am gleichen Abend warf er es in den Firmenpostkasten s e i n e r neuen Arbeitsstätte. Kein Weg war zu weit, zu steil, zu lang. Keine Minute durfte vergeudet werden.
Ein großes Industrieunternehmen. Der richtige Ort. Zeugnisse voll von Lobgesängen und guten Wünschen in der Tasche.
GEORGI & SANDER
Goldene Lettern am Portal. Stolz betrat er jeden Morgen das marmorgetäfelte Foyer. Einmal werde auch ich eine eigene Firma haben. Größer vielleicht, besser. Das Beste jedenfalls, das ich schaffen kann.
Direktor Sander war Witwer. Kahlköpfig, korpulent, mit kleinem Spitzbauch und freundlich blinkenden Rehaugen. Sein markantestes Merkmal: er war ein Mensch, hatte Verständnis für Schwächen. Seine joviale Art, den Bandleitern morgens stets die Hand zu schütteln, den Arbeitern aufmunternd zuzulächeln, begeisterte Eduard.
Krankheitsfälle oder familiären Sorgen registrierte er mit akribischer Sorgfalt. Dort eine kleine Gehaltsaufbesserung, da eine Gratifikation. Sander lebte Behring Menschlichkeit vor, die er nie vergessen wollte.
Georgi hingegen war ein armes Schwein, erinnerte sich Eduard.
„Wie nett oder liebenswert er möglicherweise auch sein wollte, war er lediglich das Sprachrohr seiner Frau, einer aufgeblasenen, arroganten Hyäne. Eine tolle Person, äußerlich. Schlanke Beine in hochhakigen Pumps, aufreizende Garderobe, schwingende Hüften, und mit Preziosen behangen, wo ein Plätzchen freie Haut zu finden war. Ansonsten eine intrigante Schlange, die Unfrieden und Missgunst schürte, wo immer sie hinkam – und sie kam überall hin. Sie machte allen, ob jung, ob alt, maßgeblich oder unbedeutend, das Leben zur Qual. Georgi litt still vor sich hin, zu schwach, um die entwürdigende Position zu ändern,
Eduard hatte eine neue Erfahrung gemacht, die er wohl in seinem Herzen verwahrte.
„Jetzt noch diese beiden Modelle! Bitte Eduard, keine Müdigkeit!“ Die Stimme Sanders hatte damals beinahe ekstatisch geklungen. „Die Kollektion wird großartig. Ach würden nur alle Kunden deine Figur haben!“
Ein Nebenjob, den Ed mit Begeisterung ausfüllte. Model für alle gefertigten Muster, bevor sie in Produktion gingen. Schlank und rank reckte er sich vor dem riesigen Spiegel, drehte und wendete sich, zupfte und zog, wenn eine Naht zu straff genäht war. Fachkundig kritisierte er Mängel, die der Meister manchmal gefließentlich übersah. Seiner Verantwortung oblag bald die alleinige Qualitätskontrolle.
Qualität und Quantität gehen konform, wenn die Kontrolle zielgerichtet und gewissenhaft ist. Hier war Eduard am richtigen Platz. Geradezu euphorisch war seine Stimmung, liebenswürdig sein Umgang mit den Kollegen, kameradschaftlich das Verhältnis zu Sander. Ja selbst mit Georgi führte er manch anregendes Gespräch, wenn der Drachen nicht gerade in der Nähe war.
Trotz aller Begeisterung hatte Eduard auch diesmal sein Ziel nicht aus den Augen verloren. Immer mehr, immer Neues wollte er kennen lernen. In den kurzen Nächten, die ihm der zahlreichen Überstunden wegen noch blieben, studierte er todmüde neue Annoncen, auch für das Ausland. Schließlich wurden Sturheit und Ausdauer belohnt.
Stellenangebote in Österreich . Werkstättenleiter für Betrieb in Reutte, Tirol, gesucht.
Eds Phantasie schlug Kapriolen. Himmelhohe Berge, schneebedeckte Gipfel, weite Seen, liebliche Holzhäuser.
Er überdachte Vor -und Nachteile. Seelenkonflikte marterten ihn nun schon über zwei Wochen. Die Befürchtung, die Stelle könnte womöglich vergeben sein, kostete ihm schlaflose Nächte.
Die endgültige Entscheidung nahm ihm ein Anderer ab. Eines Morgens flatterte ein blauer Brief ins Haus. Einberufung zum Wehrdienst . Das war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Diese unnötigen Kriegsspielereien. Dafür hatte er weder Lust noch Verständnis. Reine Zeitverschwendung.
Rasch verfasste er das Bewerbungsschreiben. Wählte mit Geschick und Diplomatie die Worte seiner endgültigen Kündigung. Wurde unter größtem Bedauern, doch mit brillantem Zeugnis und besten Wünschen entlassen.
In Windeseile packte er die Koffer. Ein kurzer Anruf nach Hause. Mutter schnappte nach Luft, konnte nicht fassen, was ihr Bub da vorhatte.
Edurad war nicht mehr zu bremsen.
Jetzt saß er im Zug, und ratterte unaufhaltsam einem neuen Lebensabschnitt entgegen.
Am nächsten Morgen trat Eduard Behring mit einem halbunterdrückten Gähnen ans Fenster des schmucken Gasthofes in Reutte.
Am Horizont brach eine kalte Sonne hervor. Die Silhouette der Bergkette rund um das schmucke Städtchen, ein Scherenschnitt vor dem blassblauen Himmel. Alles schien still, reglos. Dennoch wühlten sorgenvolle Gedanken sein Innerstes auf. Ungewissheit, Sehnsucht und Schmerz erfüllten sein Herz.
Die neue Arbeitsstätte. Ein eher kleineres Unternehmen. Hatte er sich richtig entschieden?
„Guten Morgen!“ Forsch betrat er den hellen Vorraum des Büros. Ein junger Mann saß bereits ungeduldig auf der Kante eines Stuhles.
„Behring. Eduard Behring. Gebürtig aus Westfahlen“, stellte sich Eduard zackig vor. Der andere Bursche, etwa gleich alt wie er, war aufgesprungen, lächelte ihm entgegen. Ein sympathischer, offener Blick.
„Ich heiße Albert Sauer und komme aus Wien.“ Beide setzten sich wieder.
„Wollen sie auch in der Firma anfangen?“ Albert wetzte sorgenvoll auf dem Sitz herum. Seine Worte kamen stockend.
„Ja. Die Stelle als Werkstättenleiter war ausgeschrieben. Ich habe mich beworben und wurde eingestellt.“
Nun lag Überraschung auf dem Gesicht des Wieners. „Ich wurde ebenfalls für diesen Posten vorgesehen. Bei nüchterner Betrachtung will man uns sichtlich austesten. Eine schöne Schweinerei, wenn du mich fragst.“ Vereint im Leid duzten sie einander plötzlich.
„Ein und dieselbe Position zweimal zu vergeben finde ich wirklich dreist.“
Der Chef, Maximilan Schuller, gab sich sehr jovial, doch eher undurchsichtig.
Albert und Eduard waren sich vom Schlag weg sympathisch, hatten im gleichen Gasthof Quartier bezogen. Häufig diskutierten sie auch außerhalb ihrer Wirkungsstätte mit einander. Der unseriöse Plan ihres Chefs war rasch durchschaut.
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