Sir Heinrich drückte mir während meiner Lehrzeit keinen einzigen Pfennig ab und erwirtschaftete auf diese Weise so ganz nebenbei noch ein kleines Vermögen.
Offiziell begann meine Kochlehre am 01. August 1978. Inoffiziell hatte ich die drei Wochen zuvor – in der ich eigentlich noch meine restlichen Sommerferien faulenzerisch und unbeschwert abreißen wollte – meine Arbeitskraft sozusagen dem Gasthof Heinrich freundlicherweise gratis spendiert. Dies könnte man auch durchaus als eine ganz spezielle Eingewöhnungszeit betiteln, wie man geschickt und ohne viel Aufwand den neuen Stift ausbeutet.
Herr Heinrich ließ in diesen drei Wochen nämlich nichts unversucht, um mir so einige lästige Tätigkeiten aus seinem bisherigen Aufgabengebiet beiläufig unterzujubeln.
Nachdem er mir erfolgreich die Mittagskarte aufs Auge gedrückt hatte, heckte er schon die nächste Gemeinheit für mich aus. Ich wurde bei der kommenden Getränkesendung, die in der Regel freitags kurz vor 14.00 Uhr eintraf, also quasi pünktlich zum ersten Feierabend, einfach mal so mir nichts dir nichts von der Aufräumarbeit in der Küche entbunden und wie ein altes zotteliges Brauereipferd vor den Karren gespannt.
Herr Grothe verdrehte in seiner allgemeinen Hilflosigkeit die Augen und lächelte dabei gequält in meine Richtung, als Herr Heinrich mich mit donnerndem Organ in den Keller abkommandierte. Wahrscheinlich ahnte mein zweiter Chef schon, was nun auf mich im wahrsten Sinne des Wortes zurollen sollte.
Ich hastete kopfüber die steile Kellertreppe mit seinen viel zu knapp bemessenen Stufen hinunter und wurde im Eingangsbereich direkt von einem außer Kontrolle geratenem, monstergroßem Bierfass empfangen. In allerhöchster Not konnte ich noch gerade zur Seite springen und knallte in voller Fahrt mit meiner zarten Wattebirne an die Wand. Herr Heinrich tat so, als wenn er nichts gesehen hätte.
„Jung, das Fass ist mir beim Rollen aus der Hand geglitten. Das passiert schon mal. So, komm mal mit.“
Ansonsten, kein Wort der Entschuldigung. Herr Heinrich klopfte mir kurz auf die Schulter und kratzte mich dann von der Wand ab, an der ich mich in meiner Panik festgekrallt hatte.
Etwas benommen noch von der groben Bekanntschaft mit dem hartherzigen entseelten Gemäuer stolperte ich hinter meinem Chef her zur offenstehenden Kellerluke, wo schon das nächste Bierfass mit großer Wucht durchgepfeffert wurde.
Abgefedert wurde es durch ein riesengroßes Lederpolster, was auf dem Mauervorsprung direkt unter der Luke lag. Von da wurde es dann auf ein weiteres Lederpolster, was sich auf dem Kellerboden befand, geworfen. Keine ganz ungefährliche Angelegenheit. Und wie konnte es anders sein, kam Herr Heinrich direkt zur Sache und gab genaue Anweisungen, wie er sich das so vorgestellt hatte.
„Die alten Fässer nach vorne und die neuen dahinter, Jung. Hier oben greifst du zu und dann ziehst du das Fass mit einem Ruck runter. Geht ganz einfach.“
Wenn man vielleicht solche Pranken besaß, wie Gevatter Heinrich und natürlich die Kraft dazu, dann geht das bestimmt kinderleicht, so ein Fässchen umzustupsen. Aber ich war ja noch mitten drin dabei in der Entfaltung zum edelen Rittersmanne, da reichte meine jetzige 15 Jahre alte Bubi-Kraft längst noch nicht aus, um so eine Tonne mal eben in die Kniee zu zwingen. Das Gesicht von Heinrich nahm beim Anblick meiner kläglichen Versuche eine beunruhigende Farbe an, aber er explodierte nicht sofort, wie ich es bisher von ihm kannte, sondern er zeigte mir einen kleinen Trick, wie man den protzigen Edelstahlkoloss überlisten konnte. Dieser Kniff half mir tatsächlich dabei, meinen ersten Bierbottich zu Boden zu ringen. Heinrich schaute daraufhin zufrieden in mein vor Anstrengung verschwitztes, glühend rotes Gesicht. Mit meinem rechten Handrücken wischte ich kurz über meine Stirn und spürte eine kleine Schwellung. Da war meine Gesteinsbegegnung wohl nicht ganz ohne Folgen geblieben. Im Laufe des restlichen Tages wurde daraus eine feiste Beule.
Nachdem ich alle Fässer unter den strengen Blicken meines Mentors fein säuberlich in Reih und Glied abgestellt hatte, dachte ich eigentlich, ich hätte jetzt endlich meinen vorläufigen Feierabend erreicht. Doch mein Gebieter hielt mich für eine weitere Tätigkeit in Schach. Ich fühlte mich fast schon wie unter Deck gefangen, nur das ständige Hin-und Herschwanken des Sklavenschiffes auf offenem Meer fehlte noch zu dieser grotesken Szenerie.
Die Kellerluke war längst mit lautem Knall von außen zugeworfen worden und somit wurde mir Heinrichs Unterwelt bei dem ohnehin sparsamen Einsatz von Lichtquellen noch ein wenig unheimlicher. Es gab einen relativ großzügigen Vorraum, wo die Bierfässer direkt neben dem Gefrierhaus lagerten. Verlaufen konnte man sich nicht, aber dieses Gewölbe hatte einige unliebsame Biegungen, die man nicht einsehen konnte. Und ganz weit hinten im Verborgenen lag neben dem üppigen Weinvorrat und den Lebensmittelregalen auch das Kühlhaus, wo ich Herr Heinrich nun hinbegleiten sollte. Auf dem Weg dorthin lüftete er das Geheimnis meiner bevorstehenden Aufgabe.
„Jung, jetzt zeig ich dir, wie man ein Fass ansticht.“
Fass anstechen? Was meinte er denn damit schon wieder? Dieser Mann, er sprach in Rätseln zu mir, und je länger ich über ihn nachdachte, kam mir in den Sinn, dass er gewisse Ähnlichkeiten zu einem Stummfilmkomiker besaß. Das tollpatschige Benehmen in Verbindung mit seiner lauten aufbrausenden Art, dazu die Unbeherrschtheit, wenn nicht sofort was klappte, und das massive Erscheinungsbild, all diese Merkmale ließen vor meinem geistigen Auge eine beliebte Szene aus „Dick & Doof“ vorbeziehen, wie Stan Laurel Oliver Hardy während eines Streits mal wieder den Finger ins Auge piekste. Was musste ich auch soviel Fernsehen? Und wer war dann Stan? Etwa Herr Grothe? Nein, da gab es mit Sicherheit keine Parallelen zu.
Nun stand ich also mit Mr. Hardy-Heinrich im Kühlhaus. So kurz vorm Wochenende war es bis unter die Decke vollgestopft, auf der einen Seite mit Salaten und Gemüsen, den Butter- und Milchprodukten, Mayonnaise- und Ketchupeimern. Dann gab es noch die Eimer mit dem eingelegten Wildfleisch, dessen Fleischstücke es sich in der Rotweinlake so richtig gemütlich gemacht hatten und rund um die Uhr in allerbester Partystimmung waren. Nur die Zwiebelstückchen zwackten ein wenig an der Hüfte und auf den Wacholderbeeren lag auch niemand gerne. Auf der anderen Seite war das Getränke-Arsenal. Da mehr Pils als Alt getrunken wurde, waren gleich zwei Fässer für die Schluckspechte da oben an der Leitung angeschlossen, eins immer in Reserve. Neben dem Alt stand ein kleines Fässchen Malzbier und etwas weiter in der Ecke war die Cola- und Limo-Abteilung.
„Das eine Pils ist leer, Jung. Da stechen wir jetzt mal ein Neues an. Dreh links die Leitung zu. Gut. Jetzt pass auf. Den Stab festhalten und unten aufdrehen. Warte, ich mach das.“ Das ging Hardy natürlich wieder viel zu langsam. Er rüttelte ein wenig an dem Degen, der im Fass steckte und plötzlich gab es ein ohrenbetäubendes Zischen, so, als wenn von Millionen Fahrrädern gleichzeitig die Luft rausgelassen wurde. Das ganze Spektakel dauerte höchstens ein paar Sekunden, aber die hatten es in sich. Nun war ich auch noch taub.
„Stell das leere Fass mal raus, Jung. Und roll direkt ein Neues rein. Dass immer vier im Kühlhaus stehen, zwei angeschlossen und zwei für den Nachschub und zum Kühlen. Aber Moment, ich zeig dir eben noch, wie das mit dem Anstechen geht. Das hier ist das Spundloch vom Fass. Und mit dem Degen muss du zügig und ganz gerade reinstechen und durch bis auf den Boden. Dann sofort hier oben zudrehen. So, ich mach dir das mal vor. Pass gut auf.“
Oliver Hardy verpasste in seiner Rolle als unruhiger Geist eines perfekten Bieranstechers leider den richtigen Winkel und schon spritzte uns eine hübsche Bierfontäne mitten ins Gesicht und tropfte weiter auf die Kleidung. Die heute frisch angezogene Kochgarnitur konnte ich für den Abend vergessen. Durch meine Brille konnte ich auch nicht mehr gucken. Wirklich, das war ein netter Versuch, mich ein zweites Mal für Alkohol zu begeistern.
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