Der eigentliche Big Boss, unser Herr Heinrich, war selbst Metzgermeister und wusste natürlich genau, was wir da manchmal Haarsträubendes in der Küche anstellen mussten, damit der Rubel der Zarenfamilie Heinrich rollte. Das waren Zustände wie bei der Mafia. Alle wissen, was gespielt wird, aber schweigen wie ein Grab. Und wenn wirklich mal einer aus der Reihe getanzt wäre und bei der Lebensmittelkontrolle gesungen hätte, wäre der bestimmt am nächsten Tag auch im Fleischwolf gelandet.
Der Fluch der Mittagskarte
„Hast du schon mal auf einer Schreibmaschine geschrieben, Jung?“, posaunte mich Herr Heinrich direkt am ersten Tag mit seiner tiefen bedrohlichen Stimme an.
Ein gepresstes fragendes „Ja?“, war meine unsichere, aber wahrheitsgetreue sowie im Nachhinein leichtsinnig dahergesagte Antwort, denn ich hatte in der Tat zuhause auf Opas Erbstück gelegentlich als blutiger Anfänger nur so aus Jux und Tollerei mit dem Einfinger-Such-System drauf rumgeklimpert.
Die Erleichterung war im Gesicht von Sir Heinrich deutlich zu erkennen. Ich dachte mir nichts weiter dabei, denn schließlich wollte ich meine Lehre nicht mit einer Falschaussage beginnen.
Am nächsten Morgen zuckte mir der Schreck durch alle Gliedmaßen, als Herr Heinrich die Schiebetür mit einem donnernden Ruck aufriss, sodass sie fast aus den Angeln flog, und er breitbeinig, wie Django höchstpersönlich in der Küche stand. An dieses Spektakel musste ich mich erst einmal gewöhnen.
„So Jung, heute machen wir gemeinsam die Karte, gell?“
„Welche Karte?“
„Die Mittagskarte. Die wird jeden Tag neu geschrieben.“
„Aber gestern gab es auch keine Mittagskarte.“
„Ja, gestern war auch der erste Tag nach dem Urlaub. Da hatten wir dafür keine Zeit. Das ist jedes Jahr so. Aber heute läuft alles wieder normal an. Gell, Herr Grothe?“
„Sicher, Chef, sicher“, pflichtete Herr Grothe eiligst seiner Durchlaucht bei.
„So, Herr Grothe. Was haben wir denn heute alles Leckeres?“
Herr Heinrich schritt äußerst geschäftig die drei bis vier Schritte zur Durchreiche, stützte sich darauf mit seinen massigen Ellenbogen ab, sodass sie unter seinem Gewicht quietschend nachgab, nahm das Blatt Papier, was er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte und legte es fein säuberlich vor sich hin. Erwartungsvoll blickte er zu Herrn Grothe.
Der schoss sofort aus allen Rohren.
„Als Suppe machen wir Blumenkohlcreme. Nachtisch: Vanillepudding mit frischen Erdbeeren.“
Herr Heinrich nahm flink den Kugelschreiber von seinem rechten Ohr und schrieb fleißig mit.
„Gericht eins. Möhreneintopf „Bürgerlich“ mit gebratener Blutwurst.“
„Wie teuer?“
„7,00 DM?“
„Ja, 7,00 DM ist in Ordnung. Zweites?“
„Äh, da machen wir… Zigeuner-Frikadelle mit gemischtem Salat und Pommes frites für 8,50 DM. Drittens….“
„Moment, nicht so schnell. So, jetzt.“
„Leberkäse „auf bayerische Art“ mit gebratenen Zwiebeln, Spiegelei, Krautsalat und Bratkartoffeln. 9,00 DM.“
„OK.“
„Dann hatte ich gestern Abend noch einen Rest Sauerbraten ausgefroren. Da mach ich gleich noch Klöße. Rotkohl steht schon auf.“
„Und wie teuer?“
„12,50 DM?“
„Das ist zu billig. Machen wir 13,50 DM! Also schreib ich, Rheinischer Sauerbraten mit Apfelrotkohl und Kartoffelklöße, richtig?“
„Ja. Wie viele Gerichte haben wir jetzt?“
„Vier. Also, noch sechs.“
„Zwei gedünstete Baby-Schollen „Finkenwerder Art“ mit Speckwürfeln und Silberzwiebeln aus der Pfanne, dazu Petersilienkartoffeln und grüner Salat. 14,00 DM.“
„In Ordnung…..“
„Wildschweingulasch „Hubertus Art“ mit Waldpilzen, Apfelmus-Preiselbeeren und Kartoffelkroketten. 16,50 DM.“
„Ja, ok. Weiter.“
„Drei Schweinefilets mit frischen Champignons, Sc. Hollandaise überbacken, dazu verschiedene Salate und Herzoginkartoffeln.“
„Preis?“
„17,50 DM?“
„Machen wir 18,00 DM draus. Neuntes?“
„Rumpsteak „Strindberg“ mit Salaten der Saison und Röstkartoffeln. 19,50 DM.“
„Ach, das war doch mit Zwiebelwürfeln und Senf auf einer Seite gebraten?“
„Genau Chef! Ja, und dann als letztes, Rehrückenfilet mit frischen Pfifferlingen, gefüllte Birne mit Preiselbeeren, Apfelrotkraut und Kroketten. 23,50 DM.“
„Gut, Herr Grothe. Dann haben wir das.“
Mit schlaff herunterhängenden Armen und halb offenstehendem Mund hatte ich dem rasanten Wortduell zwischen Untergebenen und Imperator sprachlos beigewohnt.
Es war kurz nach zehn und Herr Grothe hatte gerade eben erst die gebratenen Frikadellen und Koteletts nach vorne gebracht. Wie will er das alles noch Kochen, bis die Küche um halb zwölf aufmacht?
„So Jung, dann komm jetzt mal mit.“
Jäh wurde ich aus meiner verwirrten Gedankenwelt gerissen und folgte Herrn Heinrich quer durch die Küche, lief die drei Stufen hoch, die in das Durchgangszimmer führten, das die Küche mit der angeschlossenen Imbissstube verband. Hier stand nichts weiter als ein Bügelbrett, ein Wäschekorb, links an der Wand ein großer brauner Tisch, drei Holzstühle drum herum und ein großer alter Schrank in der Ecke.
Vom Schrank holte Herr Heinrich die Schreibmaschine herunter und stellte sie auf den Tisch. Er nahm ein sauberes Blatt Papier, legte eine Art Pauspapier darunter und dann ein weiteres Blatt Papier, was merkwürdig roch.
„Wenn du die drei Blätter einziehst, musst du vorsichtig dabei sein. Nicht, dass was verknittert, Jung.“
Mit einer geübten Bewegung hatte er im Nu die drei Blätter sorgfältig in der Schreibmaschine untergebracht.
„Ich muss noch was holen. Moment, Jung.“
Er stand auf, nahm die drei Stufen in einem Satz und rauschte gehetzt nach vorne.
Wenig später saß er wieder vor der Schreibmaschine und wedelte mit einem Blatt Papier in der rechten Hand, was er von vorne mitgebracht hatte.
„So, das hier ist eine alte Mittagskarte. Daran kannst du dich beim Schreiben halten, wie die Abstände sind. So muss das am Ende aussehen. Dann fang mal an, Jung“.
Herr Heinrich schien keine Sekunde zu verlieren, um mir auf dem allerschnellsten Weg, das Schreiben der Mittagskarte einzutrichtern.
Wir hatten die Plätze getauscht und nun saß ich vor der Schreibmaschine und schaute etwas hilflos auf die alte Mittagskarte.
„Oben kommt immer der Tag, Datum und Jahr, Jung. Also schreib mal. Heute ist Donnerstag, der 13. Juli 1978.“
Jetzt wurde die Sache ernst. Welche Früchte würde mein Einfinger-Such-System zum Einstand tragen? Verflixt, wo war nur das große D?
„Das große D ist hier, Jung. Die Großschreibetaste festhalten und auf D tippen.“
Ich tippte erfolgreich auf D. Der Anfang war gemacht. Aber wo war jetzt das kleine o?
„Lass die Großschreibetaste wieder los, Jung! Da ist das o.“
Die Klangfarbe von Herrn Heinrichs Stimme nahm augenblicklich sehr beunruhigende Züge an. Wahrscheinlich hatte er etwas mehr Hoffnung in mein Tippen gesetzt. Bevor er aber etwas sagen konnte, hatte ich nach dem Eintippen des o´s das n gefunden und tippte es zwei Mal ein. Das e war auch rasch gefunden, das r direkt daneben, und das s links unter dem e, das t neben dem r, das a neben dem s und dann war ich auf der Suche nach dem g.
„Hier, Jung. Da ist das g.“
Mein erstes professional getipptes Wort. D-o-n-n-e-r-s-t-a-g!
„Ja, geht doch, Jung“, machte sich Herr Heinrich selbst Mut, „aber ich tipp das jetzt lieber selbst ab, geht schneller. Aber morgen schreibst du sie dann. So, jetzt geh mal wieder in die Küche.“
Noch verwirrter als vorher stand ich auf und stolperte die drei Stufen wieder runter in die Küche. Fast hätte ich mich dabei auf die Nase gelegt. Doch niemand hatte was von meiner beinahe Purzeleinlage bemerkt, alle waren vertieft in ihre Arbeit.
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