„Wie? Schon wieder da?“
„Ja, Herr Heinrich tippt die Karte selbst. Morgen soll ich sie dann tippen.“
„JJJJJuuuuunnnnnnggggg!!!!!“
Eine Sekunde später stand ich mit weit aufgerissenen Augen wieder bei Fuß.
„Bleib mal besser hier, bis ich die Karte zu Ende geschrieben habe. Dann siehst du auch direkt die Abstände, die ich zwischen den Gerichten lasse und außerdem musst du ja auch noch mit dem Hektografen umgehen können. Ich bin morgen früh nicht da und meine Frau hat da keine Ahnung von.“
In dem Moment, als ich gerade im Begriff war, zu fragen, was denn ein Hektodingsdabums ist, hatte unbemerkt eine hagere ältere Frau den Raum betreten und stand plötzlich vor uns am Tisch.
„Guten Morgen Herr Heinrich.“
„Ach, Frau Oberstedt. Guten Morgen. Hatten sie einen schönen Urlaub?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte er mir die Dame vor. „Das ist Frau Oberstedt, Jung. Sie macht die Wäsche. Und das ist unser neuer Lehrling.“ Brav gab ich der Tante mein Händchen. Ohne zu lächeln, erwiderte sie mit strenger Miene und spitzen Mund meinen kraftlosen Händedruck. Sie hatte eine riesengroße Brille auf der Nase und eine viel zu üppige Dauerwelle für ihren kleinen Kopf.
Frau Oberstedt kam an drei Tagen die Woche so gegen halb elf und bügelte die Wäsche der Familie Heinrich. Wenn sie damit fertig war, machte sie eine kurze Kaffeepause, auf die Herr Grothe und ich jedes Mal ganz schön neidisch schielten. Danach steckte sie noch das Fleisch und die Zwiebeln abwechselnd auf die Schaschlikspieße, die abends für die Imbissbude gedacht waren.
„So Jung. Die Karte ist fertig. Hol mal den Hektografen vom Schrank. Dann zeig ich dir gleich, wie man die Karte einlegt.“
„Was ist ein Hekto….“
….graf!!! Das zeig ich dir ja jetzt!!!!“
„Ich komm aber nicht dran.“
„Dann hol dir einen Stuhl!!!!“
Herr Heinrichs Stimme wurde wieder gereizter.
In Windeseile stand ich auf einem Stuhl und griff hastig mit beiden Händen nach dem sehr alt aussehenden Apparat. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Es sah aus wie eine Nudelmaschine.
Herr Heinrich wurde hektisch. Seine Geduld schien wohl bald ein abruptes Ende zu finden. Ich wagte auch jetzt nicht, ihn noch einmal auf das Gerät anzusprechen. Vielleicht würde er mir ja im Affekt direkt den Kopf abreißen. Also schaute ich einfach dabei zu, was mein Chef als Nächstes fabrizierte.
„Das Ding klemmt wieder! Das gibt es doch nicht!!! Verflucht noch mal!!!“
Beim Versuch das komisch, stark riechende Blatt Papier in die Walze zu legen, hatte er in der Eile einen Knick am linken unteren Papierrand verursacht.
„So was darf natürlich nicht passieren, da musst du drauf achten. Ah, jetzt ist es drin. Gut so. Jung, mach mal links die Schranktür auf und nimm einen Stapel Papier raus.“
Chef nannte mich wieder „Jung“. Das war ein gutes Zeichen. Langsam schraubte er sich auf Normalzustand zurück. Seine Stimme klang jetzt auch nicht mehr so furchtbar gestresst, wie vor ein paar Sekunden noch.
Schweigend übergab ich Don Heinrich die Blätter.
„Jetzt pass auf, Jung. Komm mal her. Leg mal ein Blatt Papier auf die Platte und kurbel dabei. Merkst du den Druck, wenn das Papier einzieht? Wenn du zu wenig Druck ausübst, dann kommt kaum Tinte in die Walze. Ah, das war nichts.“
Wir starrten auf das fertige, durchgekurbelte fast weiße Blatt Papier.
„Noch mal. Papier rein, kurbeln Jung, mehr Druck ausüben und durchziehen. Gleichmäßig durchziehen.“
Auf diesem Blatt war nun schon mehr zu erkennen. Die ersten drei Gerichte sahen eigentlich richtig gut aus, dann verblasste die Farbe in der Mitte und am Ende war plötzlich alles verschmiert.
„Ich zeig dir das jetzt mal. Nicht zu langsam, aber auch nicht zu schnell, und dabei gleichmäßig durchziehen. So!“
Dieses Blatt sah schon besser aus! Zwar immer noch einige Unterschiede in den Farbtönen zu sehen, aber die Schrift war gut zu lesen.
„Jetzt machst du mal allein weiter. Für heut Mittag brauchen wir 15 Stück. Ich muss an die Theke telefonieren.“
Sagte es, nahm die drei Stufen wieder in einem Satz, lief Herr Grothe fast über den Haufen und verschwand mit lautem Getöse hinter der Schiebetür. Was für eine Vorstellung!
Ziemlich verloren stand ich nun allein vor diesem merkwürdigen Gerät.
„Ach, das wird schon“, versuchte mich Frau Oberstedt aufzumuntern, die die Situation aus den Augenwinkeln beobachtet hatte.
Nach einigen unglücklich verlaufenden Versuchen bekam ich so langsam ein Händchen dafür, dass die Karte gleichmäßig viel an Tinte abbekam und gut zu lesen war.
Ich war so sehr damit beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkte, als Herr Heinrich wieder neben mir stand.
Ich hatte weder den scheppernden Laut der Schiebetür vernommen, noch sein ansonsten so geräuschvolles überfallartiges Erscheinen, wenn er sich ankündigte.
„Jung, die sehen ja ganz ordentlich aus. Hast du schon alle Karten durch?“
„Ja, das hier ist die Letzte.“
„Gut. Dann ist ja für morgen alles klar. Ach ja, wenn die Tinte ausgehen sollte, im Schrank neben dem Papier ist noch genug. Die kommt dann hier oben rein“, und deutete mit seinem dicken Wurstfinger auf eine kleine Öffnung neben der Walze.
„Aller klar, Jung?“
„Alles klar.“
Und schon war er auch wieder im Eiltempo mitsamt den Karten nach vorne gedüst.
Als ich die beiden Maschinen zurück auf den Schrank stellte, merkte ich, wie mir leicht schummerig wurde. Ich musste mich hinsetzen.
„Was ist denn?“, fragte mich Frau Oberstedt mit einem leicht besorgten Unterton in ihrer Stimme.
„Ich weiß nicht. Mir ist ein wenig komisch.“
„Ach, das kommt von der Tinte. Da ist nämlich Alkohol mit drin. Das geht gleich weg. Ich riech das schon gar nicht mehr.“
Ich schaute kurz zu Frau Oberstedt hoch und stellte fest, dass sich ihr Gesicht richtig aufgehellt hatte und ihre Augen ein wenig glasig wirkten. Ihre zuvor so steife Haltung mir gegenüber schien sich sehr gelockert zu haben. Sie atmete tief durch, grinste mich dabei zufrieden an und wand sich fröhlich pfeifend wieder ihrer Arbeit zu.
Ohne vorher mein Einverständnis einzuholen, wurden mir nun auch schon verschiedene Möglichkeiten und Alternativen aufgezeichnet, die in die direkte Abhängigkeit des Alkohols führen konnten.
Ich stand auf und taumelte noch immer etwas benommen mit zittrigen Beinen zurück in die Küche.
„Du siehst aber blass aus“, wurde ich von Herrn Grothe schelmisch begrüßt. Er war natürlich auch über die Wirkung der Tinte bestens im Bilde. „Morgen machst du dann die Tür zur Imbissbude mal kurz auf. Dann kann die Luft ein bisschen abziehen.“
Ich nickte ihm bedröppelt zu und schaute mich in der Küche um. Es köchelte und dampfte an allen Ecken. Wie durch Zauberhand hatte Herr Grothe in der Zeit, als ich oben mit der Karte und dem Alkohol zu kämpfen hatte, die Mittagskarte runtergekocht. Es roch verdammt gut. Herr Grothe verstand sein Handwerk.
Die Mittagskarte war im Grunde genommen nur eine zusätzliche Speisekarte, die in die Standardkarte bzw. Abendkarte des Hauses eingelegt wurde. Denn auch abends konnte man noch von der Mittagskarte bestellen, bis die Gerichte aus waren. Schließlich sollten wir in der Küche nicht vor Langweile und Schönheit umkommen.
Tags darauf stand ich dann an der Stelle seiner Eminenz Heinrich an der Durchreiche. Herr Grothe diktierte mir tagein tagaus fast immer dieselben Gerichte. Für die Beilagen ließ er sich dann ausgesprochen schöpferische Namensgebungen einfallen. Aus einer einfachen Kartoffel wurde dann eine Salz-, Dampf- oder gar Petersilienkartoffel. Dann gab es den gemischten Salat, die Salatbeilage oder Salate der Saison. Simple Erbsen und Möhren konnten auch plötzlich mal hochtrabend ausgedrückt Leipziger Allerlei heißen, obwohl kein einziger Spargelabschnitt darin zu finden war oder er nannte sie verschiedene Gemüse oder einfach nur Gemüsebeilage.
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