Tatsächlich gewann er und triumphierte schamlos.
„Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn...“, murmelte ich und zählte die Punkte zusammen.
„Nur kein Neid, man muss auch mal einen überlegenen Geist anerkennen.“
„Ha! Hast du überlegen gesagt?“
„Sicher!“
„Auto-Aufräumer!“
„Gehört das zur Weichei-Liste?“
„Hab ich gerade hinzugefügt. Ich muss immer noch an den Matjes denken.“
„Vergiss ihn, den hab ich am Freitag zum Frühstück verspeist, da war er ziemlich notwendig.“
„Glühwein satt?“
„So ähnlich. Es ist übrigens halb zwölf. Wir sollten uns mal einen Platz für die Raketen suchen.“
Draußen schaufelten wir ein bisschen herum – nicht, dass wir noch die Hütte abfackelten – und rammten die ersten Raketen in den fest getrampelten Schnee. Aus der Richtung von Neufinsterbach stiegen schon die ersten Leuchtkugeln auf, zwischen den kahlen Ästen waren sie schwach zu erkennen. Und ein wunderbarer Vollmond hing zwischen den Bäumen. Eine klare Nacht – und eiskalt!
Wir schlüpften in unsere Anoraks und holten die Flasche und die Gläser, außerdem noch einige Teelichte. Alles landete auf dem verschneiten Tisch neben der Haustür. Ich brachte noch schnell das Radio und suchte nach einem Sender, der die Zeit herunterzählte. Noch war überall Partymusik. Da, der ging einigermaßen klar herein! Tarek öffnete die Flasche, ich zündete die Teelichte an. Tolle Stimmung, aber grauenhaft kalt. Die Musik brach ab und man hörte stark angeheiterte Stimmen den Countdown herunterzählen. Tarek schenkte ein. Bei null stießen wir an.
„Ein gesundes neues Jahrtausend“, kicherte ich und nahm einen großen Schluck.
„So ein blöder Wunsch!“
„Eben, der ist doch gut doof.“
„Ein gutes neues Jahr“, antwortete der Spießer und trank. Dann stellte er sein Glas ab und startete die erste Rakete. Zischend erhob sie sich und ergoss einen Regen von lila Funken in den Himmel. Alle waren lila! Was hatte er sich denn da für ein Sonderangebot aufschwatzen lassen? Ich hielt aber den Mund, um die Stimmung nicht zu versauen - man sollte ein neues Jahrtausend nicht mit einem Krach anfangen.
„Ziemlich viel lila“, meinte er dann selbst zweifelnd.
„Sieht doch hübsch aus. So feministisch!“
„Großer Gott!“ Er warf mir einen angewiderten Blick zu. Hatte ich es doch wieder geschafft!
Er trat zum Tisch und schenkte uns nach. „Auf unsere baldige Rettung!“
Darauf stieß ich gerne an und trank durstig. Er nahm mir das Glas schließlich aus der Hand, stellte es neben seins auf den Tisch und packte mich an den Schultern.
„Wirklich – ein schönes neues Jahr, Nora!“
Dann küsste er mich. Zuerst war ich verblüfft, aber er fühlte sich so warm und fest an, dass sich meine Lippen wie von selbst öffneten und sich meine Hände ohne mein Zutun um seinen Hals schlangen. Er ließ meine Schultern los und drückte mich in Taillenhöhe an sich. Unsere Anoraks knirschten gegeneinander, während seine Zunge in meinen Mund fuhr und ich seinen erforschte. Er schmeckte nach Sekt, ich wahrscheinlich auch. Er stöhnte leise, aber als seine Hände noch tiefer glitten, löste ich mich vorsichtig von ihm.
„Ich wünsche dir auch ein perfektes neues Jahr – alles, was du dir wünschst...“ Ein bisschen verlegen brach ich ab.
Er seufzte. „Du hast Recht – wir sollten uns von dieser Ausnahmesituation nicht hinreißen lassen. Komm, gehen wir rein, es ist saukalt hier draußen.“
Drinnen sahen wir uns beide etwas irritiert an. Ich verstand mich selbst nicht. Er war nicht mein Typ, und er nervte mich fast ununterbrochen. Und er mochte mich doch auch nicht. War das das Einsame-Insel-Syndrom ? Aber schon nach zwei Tagen? So notgeil war ich wirklich nicht! Und er – war ihm einfach das übliche Silvesterbussi etwas ausgeufert?
Ich seufzte leise und schenkte mir nach. Dieser Kuss war das Dümmste gewesen, was wir tun konnten. Jetzt sah ich ihn mit ganz anderen Augen und konnte mir den Gedanken nicht verkneifen, wie es mit ihm wohl im Bett wäre. Und seinem glitzernden Blick entnahm ich, dass er Ähnliches dachte. Wir mussten es noch mindestens einen Tag miteinander aushalten, solche Komplikationen konnten wir nicht gebrauchen. Ich sah ihm in die Augen. „Vergiss es“, sagte ich dann leise. „Keine Sorge“, antwortete er genauso leise und räusperte sich. Dann, mit normaler Stimme: „Spielen wir noch was?“
„Gut.“
Nach den ersten Runden hatten wir aber beide keine rechte Lust mehr. Die Flasche war leer, die Pralinenschachtel auch. „Ich glaube, ich gehe ins Bett. Träum was Schönes. Was man in der ersten Nacht des Jahres träumt, geht in diesem Jahr in Erfüllung“, behauptete ich kühn. Ich erfand gerne Bauernregeln und alte Bräuche.
Er nickte, als sei ihm das bekannt. „Du auch! Gute Nacht...“
Ich verzog mich in die Kammer, in der es höchstens noch fünf Grad hatte. Bibbernd schlüpfte ich in mein wallendes Nachthemd und breitete alles andere über der Bettdecke aus, dann putzte ich mir flüchtig die Zähne und fuhr mit einem Wattebausch voll Tonic über mein Gesicht. Ich schlief sofort ein, das war wohl der Sekt auf halb leeren Magen.
Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Was hatte ich denn da für einen Schwachsinn geträumt? Tarek kam drin vor, ein großer Garten, eine Hochzeit – aber den Zusammenhang konnte ich nicht mehr herstellen, ich hatte nur lose Bilder. Grummelnd drehte ich mich um, stopfte alles Wärmende wieder fest und schlief weiter. Tarek kam nicht mehr vor, aber ich hatte plötzlich eine winzige Katze, die ich mit der Flasche großziehen musste – und dabei war ich doch allergisch gegen Katzenhaare! Und Windeln trug das kleine Biest auch noch. Sogar im Traum überlegte ich noch, warum ich kein Katzenklo aufstellte, und entwickelte eine abstruse Begründung dafür.
Als ich wieder aufwachte, schüttelte ich den Kopf. Was für ein Blödsinn! Eine Katze mit Windeln! War sie inkontinent? Gab´s das bei jungen Tieren schon? Tarek fragen, der war doch Biologe. Neun Uhr... Das Zimmer war unerträglich kalt und ich war stark in Versuchung, mich überhaupt nicht zu waschen, sondern mich unter der Bettdecke anzuziehen. Nix! Ich rief mich energisch zur Ordnung: Ungewaschen würde ich mich nur unbehaglich fühlen. Und vielleicht stand mir noch eine Nacht hier bevor...
Das Wasser biss wie Eis auf der Haut, aber ich blieb tapfer und schrubbte mich ziemlich gründlich, dann suchte ich nach meinem vorletzten frischen T-Shirt und frischer Wäsche. Die Thermohose musste schon wieder dran glauben, die anderen Jeans waren mir zu dünn. Ein dünner Pullover und darüber ein dickerer, dazu einen Schal, zwei Paar Socken und die Stiefel. Langsam ließ das Zähneklappern nach, und ich konnte meine Haare bürsten und flechten. Der Pickel war weg, wahrscheinlich ausgehungert. Ich cremte mich dünn ein und ging dann hinaus, um Kaffee zu kochen.
Das Feuer war aus. Ich entfachte es neu mit dem Sportteil und opferte auch noch die Inserate, um es schneller zum Brennen zu bringen. Wie viel Holz hatten wir noch im Schuppen? Draußen war es strahlend schön, aber beißend kalt. Der Schnee funkelte in der Sonne, der Himmel war knallblau, und die Raketenreste in ihrem Himbeerton wirkten auf dem zertrampelten Schnee richtig geschmackvoll. Noch zwölf Scheite, sechs für jetzt, sechs für später, für heute Abend...
Drei Scheite schichtete ich noch in den Kamin, das reichte zunächst, fand ich. Dann packte ich doch mein Strickzeug aus, im Moment war es wirklich hell genug, und arbeitete weiter an einem Prachtstück aus silbernem Seidengarn mit einem aufwendigen Lochmuster. Ich schaffte zwanzig Reihen, dann frühstückte ich einen weiteren Müsliriegel - nachgerade konnte ich das Zeug nicht mehr sehen – und strickte wieder munter weiter. Schließlich legte ich das Strickzeug beiseite und überlegte, ob ich schon einmal alleine bis zur Biegung gehen sollte, um zu gucken, ob sich schon etwas rührte. Ich könnte auch die anderen aus ihrem Neujahrsschlaf reißen, malte ich mir bösartig aus. Bevor ich zu einer Entscheidung kam, tappte Tarek herein und trank gierig einen Becher Kaffee.
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